Durch Fernsehkanäle zappen gilt für verpönt. Spielt aber der Zufall mit, ergeben sich unerwartete Erkenntnisse. Man kriegt einen jähen Vergleich serviert, ohne den überhaupt keine Erkenntnis möglich ist.
Das Zappen hat eine kulturgeschichtliche Bedeutung, die bisher verkannt geblieben ist. Die Annahme, das Fernsehen würde uns verdummen und sonstwie ungünstig beeinflussen, ist vom Tisch, seit es die Fernbedienung gibt. Enzensberger zufolge zappen wir einfach weg, was uns missfällt, was uns aufregt oder uns langweilt [p 89-]. Damit wird dem Fernsehen jede Möglichkeit zur Beeinflussung genommen. Ausserdem lässt uns das Zappen von Sender zu Sender dem Autor zufolge in einem technischen Nirwana baden.
Dieser kulturgeschichtlichen Bedeutung möchte ich weitere beifügen. Nämlich das Zappen als Mittel zur besonderen Erkenntnis.
Einmal ergötzte ich mich am Fussballspiel peruanischer Indias während ihrer Arbeitspause. Die Damen eilten mit Hüten und in Röcken einem Lederbündel hinterher. Es gab weder Ordnung noch Taktik, auch Tore gab es keine. Nur Lust an Bewegung und Gelächter. Ein Knäuel kichernder Frauen, mit einem Stück Leder in der Mitte, wogte hin und her. Gleich danach schaltete ich in ein Fifa-Spiel. Aus Zufall. Der Vergleich packte mich. Fussball erschien mir bis dahin als rohe Beschäftigung zur Abschöpfung überschüssiger Energie. Im jähen Vergleich zum tollpatschigen Ballspiel der Indias bekam ich einen Begriff davon verpasst, wie perfekt, wie raffiniert, wie hochgezüchtet das Fussballspiel unter Profis abgeht. Ich glaubte, zwischen den Spielern sei ein unsichtbares Netz gespannt, an dem entlang der Ball blanke Geraden von Fuss zu Fuss zog. Die Spieler hielten durchwegs Abstand zueinander. Erst auf Torabschluss hin gerieten sie in einen Knäuel von höchstens drei Mann. Dieser kurze Vergleich veränderte nachhaltig meine oberflächliche Sicht auf diesen Sport.
Ein anderes Beispiel greift tiefer, stimmt denkwürdiger: Im Rahmen einer Reportage verfolgten Moongirl und ich am Bildschirm den Alltag in einem Zen-Kloster irgendwo in Fernost. Uns gefiel die Leichtigkeit in der Strenge: Die aufrecht Meditierenden erinnerten mich an Kerzen, die senkrecht in der Schwerkraft ruhten, der aufrechte Kopf wie eine ruhige Flamme darauf. Ihre Gesänge erschallten klar und tragend. Eine gewisse Zeit später gerieten wir nach bloss kurzem Zappen in eine Dokumentation über das Leben heutiger Karthäuser Mönche. Der Vergleich schlug ein schon zu Anbeginn: Wir sahen gebückte Männer, die Köpfe von Kapuzen verhüllt, wie sie sich über Schwellen schleppten und knarrende Treppen hoch. Jeder wirkte wie mit Blei beladen. Sie bewegten sich, als litten sie Schmerzen in den Gliedern. Sie nuschelten ihre Gebete mit brüchigen Stimmen, die nur halbwegs an Gesang erinnerten. Ich war wie aus dem Häuschen.
Was für ein Unterschied! Und wie hätte dieser Unterschied erkennbar werden können ohne diese zufällige Zapperei?
Es kann doch nicht sein, dass wir im Abendland mehr Gewichte zu stemmen haben. Auf dem ganzen Planeten herrscht doch die gleiche Schwerkraft. Dieser Vergleich lässt sich unmöglich verallgemeinern. Der Anspruch liegt bei diesem Weltspiel auch nicht darin, eine Wahrheit für alle verbindlich aufzuzeigen. Wenn ich nun eine Antwort bemühe, dann meine ich sie als Anregung aus dieser spielerischen Beschäftigung mit Weltzusammenhängen. Mir fällt nämlich auf, dass Europa als enger Wurmfortsatz der asiatischen Landmasse im Gegensatz zu fernöstlichen Weiten seit Jahrtausenden Katastrophen erlebt hat, die wie eine Walze ganze Völker niedermachten. Das hängt unheilvoll mit Schuld und Angst zusammen: Völkerwanderungen, Pestwellen, Revolutionen, Kriege und nochmals Kriege. Gäbe es ein Bild für das abendländische Volksgedächtnis, dann wäre es ein Stück Sachertorte, gefügt aus zahllosen blutigroten Schichten aus Marmelade oder was immer dazu verwendet wird. Das Psychogramm einer mehrfach geschundenen Person, die schlecht vergisst. Überdies führt der Generationenwechsel keineswegs dazu, dass dieses Psychogramm abgelöst würde.
Seit Längerem ist bekannt, dass wir auch Schuld und Ängste erben. Das sind Schwergewichte des Lebens, die zur körperlichen Gravitation dazukommen.
Schuld und Angst stapeln sich mehrschichtig zu einem Gedächtnis zusammen.
Was ist damit gewonnen? Zumindest die Bescheidenheit in der Erkenntnis, dass ich die scheinbar schwerfällige Kultur des Abendlandes auch angesichts einer fernöstlichen Kultur würdige, die in geografischen Räumen mit nur punktuellen Konflikten, aber ohne epochale Katastrophen heranwachsen durfte.
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