Zunehmende Kultiviertheit bedeutet, dass man immer wählerischer wird. Ein klarer Fortschritt im Vergleich zum rohen Naturzustand von ehemals. Kultivierte benehmen sich auch gerne herablassend gegenüber Hemdsärmeligen. Dazu besteht kein Grund. Wer kultivierter, sprich wählerischer lebt, verträgt rasche Umweltveränderungen schlechter als robuste Naturen. So wird man zu einer Orchidee im Wind der Evolution.
Der ältere Herr vor mir in der Schlange wird gefragt, ob er die Blutwürste im Rindsdarm oder im Schweinsdarm bekommen möchte. In Gedanken schüttle ich den Kopf. Ich denke, hier rechnen sie kaum mit semitischer Kundschaft. Denn diese Kultiviertheit hätte ihren Grund: In Wüstengegenden ist Schweinefleisch untersagt, da man nie weiss, ob das jeweilige Tier beim Umherschweifen von menschlichen Leichen gezehrt hat, die in diesen Gegenden eher spät bis nie fortgeräumt sind. Eine Kultiviertheit, die als Orchidee der Evolution in Frage kommt, müsste jedoch auf blossen Geschmack zurückzuführen sein. Zum Beispiel wenn ich rechteckigen Parmesan kaufen soll und nicht den dreieckigen, denn der schmecke zu wässerig, wie man mir durchs Küchenfenster nachruft. Oder Schinken. Früher assen wir Schinken. Auf dem Einkaufszettel meiner Mutter stand ‚Schinken‘ geschrieben. Im Kühlschrank war Schinken vorrätig und Schinken verlangten wir aufs Pausenbrot. Heute vermissen Kinder den Fürstenschinken, wenn man ihnen plötzlich Vorderschinken gekauft hat. Eine geraume Zeit bevorzugen sie blossen Toast-Belag. Aber auch der Krustenschinken wird zugelassen. Früher oder später stösst der Bauern-Saftschinken auf jähe Begeisterung. Dazwischen möchten sie wieder einmal Hinterschinken auf dem Teller haben. Wie damals mit der Melone. Und schon bald kommt ein Rustico auf den Tisch, der verdrängt, was bis dahin an Schinken beliebt war. Allerdings auch nur für ein paar Wochen, bis der Gran Gusto Einzug hält. Diese Kultiviertheit liegt nicht an den Kindern, sondern am fein verzweigten Angebot. Wir kaufen nicht mehr Zucker, sondern vielleicht sogar den Bio-Voll-Roh-Rohrzucker. Beklage ich das? Nur wenn ich es einkaufen soll. Ein kritischer Blick durch Einkaufsregale heutigen Zuschnitts veranlasst zu bösartigen Schlussfolgerungen. Zum Beispiel zu dieser: Eine Gesellschaft, die so wählerisch geworden ist, nicht aus Dringlichkeit, sondern aus blossem Geschmack, aus einer Laune an ungeahnten Möglichkeiten, hat Krisen nicht nur bitter nötig, sie verdient sie auch.
Aber Krisen sind niemanden an den Hals zu wünschen. Im Übrigen sorgen Engpässe dafür, dass man sich anschickt, sobald sie ausgestanden sind, die Verhältnisse grundlegend zu verbessern. Wie immer geschieht dies endlich und endgültig zu Wohl und Heil einer ganzen Gesellschaft. Und eben dieser hochkonjunkturelle Aufwand vermehrt erneut die Unterscheidungsmöglichkeiten und fördert somit Kultiviertheit.
Was soll jedoch daran fortschrittlich sein, wenn wir heiklen Sinnes Schinkensorten unterscheiden? Dieser Fortschritt erscheint besonders dann abwegig, wenn jemand Schinken schnöde von sich weist, es sei denn, er stammt vom Hinterteil eines Rinds und ist mit Bio-Note versehen. Gönnt sich jemand einfach eine stetige Abwechslung verschiedener Schinkensorten, spricht wenig dagegen. Aber dies erklärt den Fortschritt nicht im Sinne zunehmender Kultiviertheit als zunehmende Unterscheidungsmöglichkeit und damit als zunehmende Wahlmöglichkeit. Was zusammengefasst kulturelle Evolution bedeutet.
Dazu ein weiteres Beispiel, das ernster zu nehmen ist. Nämlich die verfeinerte Ausfächerung der sexuellen Orientierung. Für manche auch nur eine Sache einer selbstgefällige Laune, für andere eine Dringlichkeit, die mit neuen Möglichkeiten nach Jahren stillen Leidens zu ihrem Recht kommt. Da gibt es nicht nur die Heteros und die Homos, sondern ebenso die Bisexuellen, die Polysexuellen, die Pansexuellen, die Asexuellen, dann die Androphilen und die Gynophilen. Und schliesslich, schwierig zu unterscheiden, die Transgender, die Transsexuellen und die Transvestiten.
Zunehmende Verfeinerung der Unterschiede bedeutet zunehmendes Weltverstehen. Also Fortschritt im herkömmlichen Sinn.
Das erklärt sich wie von selbst. Mehr Weltverstehen verbessert das Überleben, macht es angenehmer. Das reicht manchen nicht als Erklärung für die kulturelle Evolution, zumal sie ökologische und soziale Probleme aufwirft. Angenehmes Überleben bedeutet Sicherheit und Freiheit von Leiden. Das scheint als Antwort auf den Sinn kultureller Evolution vielen nicht zu genügen. Viele beklagen grundsätzlich den Fortschritt, sie wählen als selbst ernannte Aussteiger ein Leben mit mehr Entbehrung.
Warum, sprich wozu sollen wir also auf diesem Planeten die Dinge zunehmend verfeinert unterscheiden? Darauf gibt es keine Antwort. Daher erachten die meisten unsere Gattung als nicht mehr zur Natur gehörig. Wie viele andere Arten greifen wir in die Umwelt ein und verbessern sie. Im Unterschied zu anderen Lebensformen jedoch kommt uns Menschen als einzigen die Eigenschaft zu, dass wir die Verbesserungen, die wir vornehmen, ihrerseits verbessern. Schimpansen mögen mit Steinen Nüsse knacken, sie schleppen die Gewichte überallhin mit. Sie übersehen die Möglichkeit, sie könnten sich jeweils bei Steinen bedienen, die gerade vor Ort sind. Auch schleifen sie sie nicht so zurecht, dass sie angenehm in der Hand liegen, wie es bei unseren Vorfahren der Fall war.
Wir verkörpern somit die einzige Lebensform, die nicht nur ihre Umwelt verbessert, sondern auch die Verbesserung ihrer Verbesserungen verbessert.
Dies Fortschritt zu nennen fällt leicht. Aber wozu das Ganze? Ziel und Zweck dieser stetigen Verfeinerung der Unterschiede wirken wie eine blosse Laune des Lebens, das sich im Einzugsbereich eines Planeten vor sich hin entwickelt, ohne dass ein Zweck davon eindeutig zu erkennen wäre, wie er beim Verhalten ersichtlich ist, das wir zum Überleben an den Tag legen. Sollte das Leben auf planetarische Verhältnisse beschränkt bleiben, hätte die Stufe Einzeller genügt, sich in diese Bereiche auszubreiten. Ebenso hätte ein Leben aus blossem Instinkt dafür ausgereicht. Sinn und Zweck einer kulturellen Evolution, bei der sich die Unterscheidungen immer feiner verästeln, liegen keineswegs so klar auf der Hand.
Die These von der planetarischen Abdrift des Lebens garantiert hingegen diese Klarheit. Sie gibt eindeutig Antwort auf die Frage, wozu es eine kulturelle Evolution geben soll. Denn diese Abdrift gelingt nur mit einer Technik, die bestmöglich ausgefeilt sein muss. Leider kenne ich keine Ingenieure der NASA, aber mir leuchtet ein, dass es womöglich einen Unterschied macht, ob es sich in einem bestimmten Funktionszusammenhang eher empfiehlt, Aluminium mit Silicium gemischt aufzutragen, statt gemischt mit Lithium. Das Beispiel habe ich frei erfunden. Sollte dies allerdings zutreffen, was ich nicht wissen kann, dann muss das Leben daran interessiert sein, dass es Lebensformen hervorbringt, die gewohnt sind, in allen möglichen Bereichen, auch beim Essen oder in der Kunst die Dinge immer feiner zu unterscheiden, damit es diese Gewohnheit auch technisch umsetzt und so zu einer bestmöglich organisierten Abdrift von diesem Planeten kommt.
Da schütteln viele den Kopf. Das liegt daran, dass sie dem Leben als solchem jede Absichtlichkeit absprechen. Dabei hat ein Atheist namens Thomas Nagel durch Ausschlussverfahren dargelegt, dass die darwinistische Sichtweise einer teleologischen unterliegt, die dem Leben Absichten unterstellt. Auch Gott soll eindeutig befähigt sein, Absichten zu haben. Das zeigt sich daran, dass er eine Schöpfung hervorbringt und Fehler daran nachbessert, indem er seinen Menschensohn durch Marter und Tod schickt. Das verwundert nicht weiter, denn auf etwas ohne Gestalt, wie ein Schöpfergott es ist, lässt sich alles Mögliche an Eigenschaften übertragen.
Absichtlichkeit hingegen ist uns bei uns selbst nur zu vertraut. Auch bei Tieren lässt sich Absichtlichkeit sinnvoll ausdeuten. Wenn Pelikane ihre Eier auf Sandhaufen legen, bleiben sie der sengenden Hitze des Bodens enthoben. Wie sollten wir den Tieren keine Absicht unterstellen, wenn sie diese Sandhaufen vorher zusammenscharren.
Was uns betrifft und überhaupt die Erforschung von Gehirnmassen, so haben wir nach wie vor keinerlei Ahnung, wie der fettige Klumpen Fleisch in unserem Schädel Absichten hervorbringt. Wir wissen auch nicht, wie es kommt, dass dieses Stück Fett sich ängstigt, sich verliebt, wie es sich langweilt.
Wenn tierisches Eiweiss unbestreitbar Absichten verfolgt, warum nicht auch das Leben als solches?
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