Bob Dylan hat den Literaturnobelpreis zugesprochen bekommen. Warum nicht Till Lindemann von den Rammstein? Zu provokant, möchte man beanstanden. Dieser Einwand bleibt an der Oberfläche, so nachvollziehbar er scheinen mag. Lindemanns Lyrik reizt einen Nerv, der aus der Öffentlichkeit hart verdrängt wird. Umso mehr wird er von Tausenden geteilt. Europaweit. Weltweit. Seit Jahren.

Warum auch sollte man einen Autor würdigen, der in einem Gedicht über Marie Antoinette darüber fantasiert, ihren 1793 vom Fallbeil freigelegten Hals zu penetrieren [p 94]? Nie und nimmer würden solche Texte in einem Literaturcafé verhandelt. Wer sich provoziert fühlt, muss sich die Einsicht gefallen lassen, dass Provokation nur dank seiner Empörung gelingt. Ein Provokateur findet sich auf verlorenem Posten wieder, wenn seine Aktion von einem müden Lächeln quittiert würde. Aber solange man sich darüber auf Anhieb empört, bleibt Provokation der reinste Genuss. Schlimmer wäre pure Missachtung. Sie würde jeder Provokation den Wind aus den Segeln nehmen. Aber die meisten Leute sehen sich ausserstande zu dieser Gelassenheit. Etwas allzu rasch, finde ich, zeigen sie sich um ihre heiligen Werte besorgt. Aber auch sie haben dafür gute Gründe.

Viele Jahre lang kannte ich von Rammstein nur die Klangfetzen, die in David Lynchs «Lost Highway» vorkommen. Diese hielten mich wie ein Vorurteil davon ab, genauer hineinzuhören. Auch der haltlose Vorwurf des Rechtsextremismus spielte dabei eine Rolle. Rammstein sehe ich im Gegenteil der Postmoderne zugehörig. Mit dem typischen Flair für Vielfalt und Surrealismus. Die Themen, die bei Lindemann regelmässig wiederkehren, wirken zunächst harmlos in ihrer Natürlichkeit: Sonne, Feuer, Funken, Wasser, Meer, Himmel, Wolken. Dann wird die Liste ernster: Fleisch, Tränen, Blut und, nicht zuletzt, Liebe.

Und schliesslich: Zerstörung. Zerstörung allerdings nicht aus Rache oder vergleichbaren Motiven, sondern als Voraussetzung zu einer ungeahnten Einheit.

Man ist versucht, in dieser Lyrik Muster zu erkennen, denen eine stabile Bedeutung zukommt. Lindemann selbst soll, typisch Postmoderne, seine Gedichte der freien Deutung überlassen haben. Bei genauerem Lesen fällt jedoch auf, dass es da gar nicht so viel Spielraum gibt. Denn es fallen Ähnlichkeiten in den Zusammenhängen auf, in denen das gleiche Symbol in der Lyrik auftritt. So etwa beim Thema Wasser. Lindemann bevorzugt reichlich das Symbol des Meeres. Dazu liefert er in einem Gedicht eine Formel ab: «Liebe ist ein Ozean», schreibt er [p 132]. Daher bekommt es wiederum eine sexuelle Bedeutung, wenn es heisst, er werfe seinen «Anker in dein Meerchen» [p 74]. Und die Zeile, der Vater treibe auf hoher See, hört sich so begriffen völlig anders an [p 93], ebenso der Ausruf «Ich will Meer!» [p 34]. Aber die Bedeutungen gehen ineinander über. Etwa wenn vom «Fleischmeer meines gierigen Geschlechts» die Rede ist [p 30]. Diese lyrische Verschränkung ermöglicht surreale Bilder, die wie von selbst reizvoll wirken. So hat im Lied «Laichzeit» die Mutter das Meer geholt [04:10], was immer das innerhalb eines Textes bedeuten mag, der derart voller Anspielungen ist, dass er ein psychoanalytisches Feuerwerk lostritt: Mutter, Fisch, Schwester, Laich, Hund.

Deutlicher wird die Sache beim Feuer, das für die Band Rammstein ohnehin prominent ist. Einerseits bezeichnet Lindemann lästige Akne als «Fackel im Gesicht» [p 24], andererseits steht die Sonne für Körperkraft beim Schwerstarbeiter, wenn sie ihm «aus den Augen» und «aus den Händen» scheint oder «aus den Fäusten bricht» [01:35]. Offensichtlich steht das Feuer für eine Art Körperenergie. Daher nimmt diese Kraft auch eine sexuelle Bedeutung an, wenn der Spanner seine Nachbarin am Fenster mit «einer Sonne in der Hand» beobachtet [02:10] oder einer Nackten hinterherschwimmt und dabei den «Funkenstaub» geniesst, der aus ihrem «Schritt springt» [00:44]. Die «Flamme» leuchtet ihr «aus dem Schenkeleck» [01:56], was zur Folge hat, dass auch der schwimmende Spanner «in Funken versunken in Flammen» steht. So kommt es zur surrealen Schlussfolgerung, dass er im Wasser «verbrennt». Auch macht es durchaus Sinn, wenn es andernorts heisst, das «Sonnenlicht verwirre den Geist» [00:35]. Auch dass Benzin als Treibstoff für den Körper besungen wird, indem es durch die «Venen fliesst» und in «Tränen schläft», lässt sich so zweckmässig einordnen. Ein schlagender Beleg für die Bedeutung des Feuers als körperliche wie mentale Lebensenergie findet sich im Lied «Spring». Dort verdecken Wolken auf einmal die Sonne. Ein Vorgang, der nichts zur Geschichte des Liedes beiträgt. Ausser dass dann eben die Gier der Menschenmasse, den scheinbaren Selbstmörder endlich springen zu sehen, dadurch verdeutlicht wird, dass nun dank der Eindunkelung «tausend Sonnen» auf dem Platz unter der Brücke aufleuchten. Sie «dröhnen nur» [ab 02:34] für den Springer.

Bei Lyrik lässt sich nichts auf Sachlogik abstellen, das wäre ein verfehlter Anspruch an sie. Was bei Lindemann besonders deutlich, aber sonst bei Lyrik gerne übersehen wird, ist ihre gewalttätige Art, Sinnzusammenhänge, die uns allzu selbstverständlich geworden sind, so zu überdehnen oder zu sprengen, dass ein neuer Bezug zur Welt gefunden wird. Punkto Wasser als Symbolik gewinnt man bei Lindemann den Eindruck, er sei durchaus vertraut mit der Lyrik Ingeborg Bachmanns, die keineswegs harmlos ist, wenn bei ihr etwa die Eingeweide der Fische am Wind erkalten. Die Dinge werden herausgekehrt oder so umgestülpt, dass sie neuen Sinn ermöglichen. Und wenn Lindemann von «toter Milch» [02:51], singt, ist die «schwarze Milch» eines Paul Celan nicht weit. Im Lied «Reise Reise» verschränkt Lindemann zwei Themenbereiche, nämlich den Hochseefischfang, bei dem Harpunen zur Anwendung kommen, mit der urtümlichen Kriegsführung per Lanze von Mann zu Mann. Diese Verschränkung führt im Lied «Mein Teil», das auf einen berühmten Fall von Kannibalismus anspielt, dazu, dass man nicht weiss, ob derjenige, der als Opfer auftritt, am Ende sich gar selbst isst. Und wenn es in «Reise Reise» heisst, «Fisch und Fleisch» seien zur See geflochten», dann liegt das nicht nur am Reim, sondern bringt die Arbeit der Lyrik auf den Punkt:

Selbstverständliche Sinneinheiten aufbrechen, umstülpen, überdehnen, ja sogar zertrümmern und neu zusammenfügen, neu zusammenflechten.

Zu einer verlorenen, zu einer wiedergefundenen Einheit.

Das entspricht dem Vorgehen des Schamanismus. Wer Schamane werden will, so heisst es, müsse bereit sein, dass sein Ich visionär zerstückelt wird. Um es neu zu bauen. Aus Elementen, die die ganze Welt ausmachen. Meinetwegen erklärt sich Lyrik als Frühphase des schamanistischen Gesamtprozesses. Vielleicht vollzieht Lindemann da einfach einen Schritt weiter hin zur Zerstückelung von Gewohnheiten, die uns zu leben helfen, dadurch aber unsere Sicht auf die Welt verhärten oder verbauen.  Zwar meinte Lindemann, er halte nichts von Yoga und dem Indien-Zeugs, umso mehr aber vom romantischen Instinkt. Aus meiner Sicht geht das noch einen Schritt weiter: Lindemann zerstört gewöhnliche Sinnüberzeugungen, er stösst sie vor den Kopf, provoziert sie brutalst, damit die rohe Instinktnatur, die wir Menschen bei aller Vernunft ebenso haben oder sind, in neuer Würde zutage tritt.

Das Schwarze in uns wird freiseziert.

Und tritt ins Licht.