Christliche Selbstliebe klingt nach einem Widerspruch. Alles dreht sich doch um Nächstenliebe. Dabei stellt der Grundsatz «Liebe deinen Nächsten wie dich selbst» klar, dass die Selbstliebe der Nächstenliebe vorangeht, sie sogar begründet. Daher kann durchaus von einer christlichen Selbstliebe die Rede sein. Dieser Ratschlag für ein gutes Leben unter Menschen hat aber seine Tücken. Auch hat er mit Problemen biblischer Übersetzung zu tun. Seine alternative Übernahme aus anderen Grundtexten wäre um Einiges hilfreicher für uns.
Man verändere die Situation wie folgt: Liebe deine Schwester genauso wie deinen Bruder. Die Liebe zum Bruder setzt die Liebe zur Schwester voraus. Ohne Selbstliebe also keine Nächstenliebe. Der christliche Lehrsatz oder die Anweisung von der Nächstenliebe durch Selbstliebe gilt zurecht als revolutionär. Denn er verbindet nicht nur Bruder mit Schwester, Nachbar mit Nachbar oder Vorgesetzte mit Belegschaft, sondern Mensch mit Mensch. Das Problem dabei ist: Niemand liebt einfach so sich selbst. Die liebevolle Annahme der eigenen Persönlichkeit läuft über Zustimmung oder Ablehnung durch andere. Genauso verhält es sich mit dem freien Willen in der Auslegung der Neurobiologie: Ob ich selbstbewusst und verantwortlich Möglichkeiten wähle, hängt davon ab, wie man mich von Kindesbeinen an behandelt hat. Eine erbärmliche Abhängigkeit also. Der Ratschlag von der Nächstenliebe durch Eigenliebe gilt als Herzstück des Christentums. Auch andere religiösen Strömungen teilen diesen Grundsatz. Denn jedes Bekenntnis verfolgt meines Erachtens den Zweck, dass man rücksichtsvoll miteinander lebt. Die Mittel dazu sind vielfältig, somit eigentlich belanglos, wenn man bedenkt, was für ein Gewese um die Mittel veranstaltet wird. Meistens sind es Mythen, die sich zu einer ganzen Welterzählung fügen. Glaubt jemand an die jungfräuliche Geburt, dann bewegt er sich in einer Welt, in der Wunder geschehen können. Also hält er sich offen dafür. Und diese Offenheit macht den sozialen Feinsinn möglich, den er lebt. Ob der Mythos, der das bewirkt, sachlich wahr ist oder nicht, spielt gar keine Rolle. Christen leisten Hilfe, wo immer es ansteht, sie spenden Zuwendung, geben sich gastfreundlich. Tatkräftig befolgen sie diesen Grundsatz von der Nächstenliebe. Sein Stolperstein jedoch liegt bei der Selbstliebe. Dieser Lehrsatz, wie wir ihn kennen, fordert nicht ausdrücklich dazu auf, sich selbst zu lieben. Vielmehr setzt er Selbstliebe als gegeben voraus. Das wird gerne übersehen. Mit dem besonderen Vermerk auf Selbstliebe in dieser Anweisung erhofft man sich von Personen, deren Bezug zu sich selbst belastet ist, wie chronisch Kranke, Beeinträchtigte, Borderliner oder Bipolare, man verspricht sich dadurch einen heilsamen Zugang zu sich selbst und zu ihren Nächsten. Denn Selbstliebe geht der Nächstenliebe notwendig voraus. Liebt man sich selbst, scheint die Annahme der Nächsten wie von selbst zu gelingen.
Womöglich verhält es sich so. Allerdings sind auch unter emsigen Christen Zeugnisse überliefert, die trotz reger Zuwendung zu anderen eine tiefe Ablehnung der eigenen Person bis hin zu Ekel vor sich selbst überliefern. Es ist anzunehmen, dass es sich heute ähnlich verhält. Nicht Selbstliebe, sondern die Angst vor Bestrafung, früher vor Verdammnis am Jüngsten Gericht nötigen manche zur Nächstenliebe. So aber scheint es nicht gedacht. Man könnte sogar wettern, es sei unchristlich, Nächstenliebe unter Selbsthass auszuüben. Aber diese Kritik wäre kaum hilfreich. Für niemanden. Freuds erste Patienten sollen vorwiegend Protestanten gewesen sein, denen selbst bei dringendem Bedarf die Möglichkeit verwehrt war, im Rahmen einer Beichte ihr Herz auszuschütten. Eine kirchliche Dienstleistung gewiss, die jenen noch in den Knochen sitzt, die man dazu gezwungen hat. Hingegen wer andere hasst, da er sich selbst ablehnt, erfüllt genauso diesen Lehrsatz, wenn auch unter verkehrtem Vorzeichen. Das Gesetz bleibt seiner Struktur nach erhalten: Selbstliebe führt zu Nächstenliebe. Keine Selbstliebe führt zu keiner Nächstenliebe.
Allerdings scheint es auch so nicht gedacht. Selbstliebe wirkt als wahre Krux unter Menschen. Auch Moderne wie wir, die von solchen Lehrsätzen entlastet scheinen, sind keineswegs für Selbstannahme bekannt. Wer zu wenig hart arbeitet, zu wenig hart spielt, aus welchen Gründen auch immer, macht sich unentwegt Selbstvorwürfe. Also keine Selbstliebe.
Bei all dieser Drangsal fragt man sich irgendwann, ob Selbstliebe im Urtext überhaupt genannt wird, wenn sie doch so dürftig gelingt. Vielleicht liegt das Problem bei der Übersetzung. Mit diesem Ratschlag jedenfalls liefert der Nazarener Jesua keinen neuen Beitrag, sondern er zitiert eine Stelle aus dem Leviticus 19.18, somit aus einem Grundtext des jüdischen Pentateuch. Im Vergleich wird so eine Bedeutungsverschiebung klar. Demnach sollte es heissen: «Liebe deinen Nächsten, denn er ist so wie du.» Bei Martin Buber, meinem bevorzugten Verdeutscher des Alten Testaments heisst es an dieser Stelle: «Hab lieb deinen Genossen, dir gleich», während bei Luther ebenda dieser Lehrsatz mit der vorausgesetzten Selbstliebe so genannt wird, wie er uns vertraut ist. Nach Hegel, der auch als Gigant der Moderne von Grund auf christlich bewegt ist, heisst es sogar: «… denn der Nächste ist Du.» Damit liesse sich spielend einen Bogen nach Indien schlagen, aber das liegt hier nicht in meinem Interesse. Mich entzückt vielmehr die Tatsache, dass die Formel «Ich bin Du» in beiden Testamenten sowie bei Hegel und prominent im indischen Denken erscheint.
Wer sich ablehnt, kann von nun an Nächstenliebe unabhängig davon üben. So lebt man getrost seinem Sterben entgegen. Und all die Leute, die ihre Mitmenschen aus Selbsthass ablehnen, sehen sich ab jetzt in die Lage gebracht, dass sie den Nächsten als eine Person annehmen, die sehr wahrscheinlich genau wie sie Mühe hat, sich selbst liebevoll anzuerkennen. Jedenfalls ergibt sich diese Gewissheit sachlich logisch aus der Gleichsetzung von Ich und Du.
Diese alternative, sprich ursprüngliche Lesart erlöst alle wahren und halbwahren und falschen Christen augenblicklich von ihrer problematischen Selbstliebe als Voraussetzung zur Nächstenliebe.
Denn so ist sie gar nicht mehr nötig.
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