Ein Fleck ist peinlich. Wird jemand darauf aufmerksam gemacht, beginnt ein hektisches Gereibe. Mit Einsatz von Spucke. Interessanter wird diese Angelegenheit, wenn vom Schönheitsfleck die Rede ist. Oder vom Knutschfleck.

Brotkrümel im Bart, ein Stück Nudel im Gesicht. Niemand schreitet stolz und unbekümmert einher wie der Hirsch, dem sich Stroh zu einem Nest in seinem Geweih verheddert hat. Scham trennt uns von Tieren. Scham belegt den Verstand, der uns zu dem Vergleich befähigt, ohne den keine Peinlichkeit an sich selbst oder an anderen begriffen würde. Verlegenheit zeugt von einem bestimmten Mass an Intelligenz. Nicht umsonst haben wir vom Baum der Erkenntnis genascht und uns dann schamhaft bedeckt.

Flecke sind verräterisch. Virginia Wolf, glaube ich, war es, die in einem einzigen Wort, begleitet vom Fingerzeig auf einen Fleck, sich in einem anderen Bewusstsein und damit in einem neuen Zeitalter wiederfand: Züchtig wie gewohnt sassen die jungen Frauen beim Tee, als der Gast, ebenso jung und weltkundig, auf einen Fleck am Saum eines der Röcke deutete und fragend meinte: Sperma?

Wenn ich in der Gegend herumfotografiere, fühle ich mich ab und zu genötigt, eine Kippe vom Boden zu entfernen oder ein zermantschtes Stück Taschentuch. Gleichzeitig bringe ich das kaum übers Herz. Zwar würde die Fotografie in gewissem Sinne reiner werden, allerdings auch weniger natürlich, weniger zufällig. Die eine wie die andere Vorgehensweise kennt ihre Berechtigung. So habe ich mir angewöhnt, gar nichts an dem Ausschnitt zu ändern, der mich zum Ablichten befällt. Zumal ich meistens gar nicht in der Lage bin, die Störung zu glätten. Die Monster, die ins Spiel Minecraft einprogrammiert sind, wirken besonders im kreativen Modus, wenn man nur baut, statt Überleben spielt, wie störende Flecke, die herumwandeln. Sie würden sich mittels ein, zwei Klicks ausschalten lassen, aber auch dies brachte ich noch nie übers Herz.

Ist von Flecken die Rede, gilt es somit, Flecke, die aus Zufall oder infolge ungeschickten Verhaltens zustande kommen, von solchen zu unterscheiden, die willentlich aufgetragen oder aber von Natur aus gegeben sind. Zu letzteren folgendes Beispiel: Vor Jahren lehrte mich ein Freund Bäume und Sträucher zu schneiden. So übte ich diese Tätigkeit eine Zeit lang aus. Für den Anfang liess er mich auf Weiden los. Dieses Gewächs stände förmlich darauf, dass man es schneide, meinte er. Ich konnte also nichts falsch machen. Auch ein dichter Busch Flieder sollte ich grösszügig auslichten. Bei Apfel- und Kirschbäumen hatte ich dann von der Leiter aus die Äste zu umarmen, um sie an der geeigneten Stelle kappen zu können. Dabei kam mir die Rinde der Stämme sehr nahe vor Augen. Ihre warzenartigen Verwachsungen, die vernarbten Risse, Flechten und Moose fingen mir an zu gefallen, da ich sie immer wieder zu Gesicht bekam.

So fing ich an, menschliche Haut anders zu sehen:

Flecken, Narben, Schuppenflechten, Knötchen und Pusteln, Muttermale, Leberflecke. Allesamt unschöne Flecken, die zur Natur gehören. An meiner Schulter haftet seit Jahrzehnten ein kleiner, gefühlloser Hautsack, der nur sehr dünn, aber zäh mit dem Körper verbunden bleibt. Von Weitem sieht er aus wie ein Fleck. Ihn abzuschneiden, kam mir noch nie in den Sinn.

In solchen Flecken schreibt das Leben ganze Geschichten. Nimmt man sie genauer in Augenschein, erscheint die Natur voller Abweichung, statt von Gesetzen durchnormt. Dadurch bekräftigt sich der Gedanke, dass die Norm, nach der wir uns richten, nur dank der Abweichung greifbar wird, die sie notwendig bewirkt. Gerne sage ich, im Leben kämen ohnehin nur Abweichungen vor. Allerdings will ich damit Leute zum Denken bringen, die zum Leidwesen anderer ganz besonders auf die Gültigkeit von Normen angewiesen sind, sodass sie Abweichungen gerne als Störung verurteilen. Wichtig ist: Eine Abweichung lässt sich nur bei gleichzeitiger Annahme einer Norm behaupten. Wir erfinden ja beides nicht, weder die Norm noch die Abweichung davon. Allerdings gewinnt man schon den Eindruck, wir bekämen nur dadurch Normen zu begreifen, indem wir Abweichungen soweit raspeln und glätten, bis die Norm als reines Gesetz erstrahlt. Der Zweck liegt auf der Hand: So kann man besser damit umgehen. Individualisten mögen die Abweichung. Wer hingegen Gleichschaltung bevorzugt, da sie ihn beruhigt, hat Normen im Blick. Und er darf den Vorteil in Anspruch nehmen, dass nicht knallige Abweichungen evolutionär erfolgreicher sind, also die Spitzen einer gausschen Verteilung, sondern ihr üppiges Mittelfeld. Eben der Durchschnitt. Oder die Norm.

Die Norm der Symmetrie gilt in der Natur als Merkmal für Gesundheit. Willentlich gesetzte Flecke, wie etwa der Schönheitsfleck sind jedoch dazu angetan, die Symmetrie reizvoll zu brechen. Der Reiz liegt in diesem Bruch, gewiss, aber er lebt genauso davon, dass die Norm den regelmässigen Hintergrund gewährleistet, von dem sich der Fleck abhebt. Ein Gesicht ist von Natur aus spiegelbildlich gefügt, also genormt. Aber nicht nur. Spiegelt man tatsächlich die eine Gesichtshälfte, wirkt der Anblick kalt und künstlich. Der Fleck, der diese Ordnung unterbricht, erinnert an die Abweichung, die eine Persönlichkeit erst kenntlich macht, indem sie sich von der Norm abhebt. Je nach Ort seines Auftrages, ob rechts am Kinn oder im Augenwinkel kommt ihm eine andere Bedeutung zu. Selbst Männer im Barock gönnten sich Schönheitsflecke. Ihr frauliches Benehmen liess auf keine besondere sexuelle Orientierung rückschliessen. Es sollte eher bezeugen, dass diese Männer imstande waren, wann immer nötig sich der Brutalität zu enthalten, mit der sie damals Religionskriege ausfochten.

Vom Schönheitsfleck ist der Knutschfleck nicht weit entfernt. Dieser soll verhindern, was der andere möglich macht. In einer Schulkasse stellten wir bei Antritt einer Studienreise nach Berlin fest, dass ein paar Mädchen am Hals einen frischen Knutschfleck aufwiesen. Kein Schal verhüllte die scheinbare Peinlichkeit. Seine Sichtbarkeit war also zweckdienlich. Der Fleck sollte wie ein Ehering Treue mit dem Freund markieren, der zu Hause blieb, und dadurch Mitbewerber am Liebesmarkt auf Abstand halten, von denen Berlin nur so wimmelte. Sollte der Freund diesen Fleck gewünscht haben, lief er Gefahr, dass sein Mädchen ihm mangelndes Vertrauen vorwirft. Aber die meisten Menschen werden krank vor Zweifel, also geht man auf ihre Wünsche ein. Solche Flecke liessen sich notfalls überschminken.

Seiner Asymmetrie wegen fallen Knutschflecke besonders ins Auge. Daher finden wir auch Michael Jacksons Handschuh so reizvoll. Und in gewissem Masse seine Armbinde. Früher machte die Armbinde dank ihrer Asymmetrie einen Ausnahmezustand geltend, nämlich einen Trauerfall. Wer weiss, was die Nazis dazu brachte, Armbinden zu tragen. Ihr Selbstverständnis, aus Notwehr zu handeln, würde den Ausnahmezustand als Hintergrund dieser Asymmetrie bestätigen. Aber auch Eheringe wirken asymmetrisch. Und sie verweisen auf keinen Ausnahmezustand. Es sei denn, man begreift die ausserehelichen Verführungen als einen solchen Moment, wo dieses Symbol, indem es asymmetrisch ist, auf sich aufmerksam macht.

Wer Dinge, die störend wirken, einfach wegwischt, wegretouchiert, überpudert, wegklickt, verhält sich im Grunde genommen faschistisch.

Zurecht wird man das übertrieben finden. Aber die Sache mit dem Fleck belehrt uns darüber, dass das Leben wohl beides benötigt:

Die Norm genauso wie die Abweichung davon.