Für Erasmus entsteht Krieg aus Krieg. Dabei geht den meisten Kriegen ein Friede voraus. Krieg entsteht also aus Frieden. Wie soll das gehen? Dem Frieden haftet tatsächlich eine Tragik an, die zu Krieg führt. Aber Frieden verhüten kann niemand wollen.
Krieg ist die Hölle auf Erden. Frieden befreit davon. Dennoch fällt auf: Vor jedem Krieg herrscht Frieden. Die zwei Weltkriege sehen viele zu einem neuen 30jährigen Krieg verbunden, zumal die zwei Jahrzehnte dazwischen kaum friedlich verliefen. Auch fällt auf, dass die heutigen Kriegstreiber allesamt im Frieden gross geworden sind. Wer den Krieg in den Knochen hat, politisiert anders. Kriegsgenerationen gehen von einer blutigen Erfahrung aus, während Politiker, die nur Frieden kennen, zu Theorien greifen, mit denen sie dann ebenfalls eine Art Krieg führen und meistens nur Schaden stiften. Die Besonnenheit eines Helmut Schmidt oder eines Richard von Weizsäcker wird heute schmerzlich vermisst. Vater Bush, Pilot der US-Navy im 2. Weltkrieg, stoppte 1991 an der Grenze zum Irak von Kuweit her, wie es das Uno-Mandat auch vorsah. Sein Sohn hingegen, auf dem Sofa gross geworden, setzte dem Diktator Saddam nach und hinterliess im Irak ein Chaos bis heute.
Manche sind entsetzt, dass es wieder Krieg gibt. Als läge es an ihnen, zu bestimmen, wann damit Schluss sei. Ihnen sollte auffallen, dass ihr Aufruf zu Frieden seit Jahrtausenden erschallt. Offensichtlich ohne Wirkung. Die Schrift «Klage des Friedens» aus dem Jahr 1517 gehört zur Tradition des Pazifismus. Erasmus ruft die Fürsten Europas zu Frieden auf. Dabei hebt er hervor, wie unchristlich Kriegsführung sei. Und in wunderbaren Worten legt er dar, wie unkriegerisch die Natur den Menschen ausgestattet hat: Unser Körper ist zum Töten ungeeignet. Kein Stachel, kein Horn. Wir wimmern, wir weinen. In unseren Augen, so Erasmus, spiegle sich die Seele, unsere Arme seien biegsam zur Umarmung, und vor allem gab uns die Natur die Empfindung eines Kusses.
Aus dieser natürlichen Grundbedingung menschlichen Lebens lässt sich leider ebenso schlussfolgern, dass gerade empfindsame Schwäche umso mehr nach Schutz verlangt und daher, je nach Grad einer Bedrohung, bereit ist, Krieg zu führen oder ihn zuzulassen. Krieg lässt sich sogar als ein Dauerzustand begreifen. Clausewitz hat die berühmte Formel erbracht, wonach Krieg bloss die Politik mit anderen Mitteln fortsetzt. Michel Foucault schlägt ihre Umkehrung vor: Also ist Politik in Friedenszeit bloss die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln. Zur Bestätigung dieser Sichtweise braucht man sich nur umzuschauen. Konflikte schwelen genug, sie brechen immer wieder hervor. Zwar töten wir nicht. Der Krieg aller gegen alle wird mehrheitlich als Streit unter Meinungen geführt. Die Einen arbeiten soziale Sicherheiten aus und verbessern sie gewissenhaft, da sie jederzeit Niedergang und Auflösung befürchten. Andere hingegen bauen diese Sicherheiten ab, da sie darunter leiden. Wir streiten um Überzeugungen, die davon handeln, wie man richtig lebt. Sie betreffen Bereiche wie Religion, Diät, Freizeit, Beziehungsfragen. Es sind religiöse wie politische Bekenntnisse, eine Unmenge an Expertenwissen, die einander durchkreuzen, aber auch modische Urteile, als Wahrheiten bekräftigt und verteidigt. So moralisieren wir uns gegenseitig in Grund und Boden.
Wenn man die Kriege überblickt, die den Aufruf zum Frieden gefestigt haben, fällt auf, dass ihnen eine Verbesserung und Auffrischung der gesamten Gesellschaft folgt. Unmittelbar nach solchen Katastrophen herrscht eine Besonnenheit, die Ausgleich schafft: 1648 das erste Völkerrecht, 1945 die Soziale Marktwirtschaft, die Vereinten Nationen und die Finanzordnung von Bretton Woods.
Daher meine These: Krieg baut Hass ab, während Frieden ihn schürt.
Kriege führen uns die bedürftige Natürlichkeit aller vor Augen. Ganz besonders die des Gegners. Das Leiden wird zu einer Gemeinsamkeit, die über Fronten hinaus deutlich wird. Auch herrscht in Ruinen eines geführten Krieges unter Menschen eine seltene Toleranz, die mit Frieden und Wohlstand wieder verpufft. Nach 1945 duldete man schwule und lesbische Zweisamkeit zwischen Trümmern und in der Kälte schwerer Winter. Kraut und Rüben lebten da zusammen. Denn ganze Familien, ganze Verwandtschaften waren ausgelöscht. Die Menschen litten Hunger, sie litten Einsamkeit.
Intoleranz scheint zum Frieden zu gehören. Eine Art Keimzelle für nächste Konflikte.
Der Friede kommt, und alle gehen ihrer Wege. Sicherheit und Versorgung sind erneut gewährleistet. Unter diesen vorzüglichen Umständen pflegt man ungestört seine Eigenart, seine besondere Zugehörigkeit: Traditionen, religiöse und politische Bekenntnisse. Freizügigkeit sorgt für Vermischung, überhaupt die Grundrechte, die zunehmend global verbürgt sind. Dem Papier nach zumindest. Zellen bilden sich aus. Eine Ghettoisierung geteilter Eigenart setzt ein. Alles in Allem eine Individualisierung, die wir unbedingt als Fortschritt erachten sollten.
Allerdings ist es so, dass wir uns in dieser Lage einander entfremden. Die gemeinsame Natürlichkeit, entblösst und geoffenbart im Krieg, geht schleichend vergessen.
Generationen ziehen ins Land, die Zellen verfestigen sich. Ihre anfängliche Porösität wird halbdurchlässig und verschliesst sich immer mehr, da die Vermischung manche Menschen ängstigt. Irgendwann erscheint es als Zumutung, dass andere Gruppierungen Frieden und Wohlstand zu ihrer Entfaltung nutzen. Es kommt zu ideologischer Verhärtung. Vielleicht ist Ghettoisierung ein Grundtyp auch des Friedens, aber das wäre polemisch gesprochen. Seine vorzüglichen Umstände brauchen nur leicht zu bröckeln, wie es oft geschieht. Ein Hauch von Infragestellung des Wohlstandes, und schon regt sich Hass auf alles Mögliche.
Frieden führt zu Hass, Krieg baut ihn ab.
Ein weiterer Beleg für diese These liefert Alfred Andersch mit seinem Buch «Sanisbar oder Der letzte Grund». Die Figuren, die ihre gemeinsame Flucht organisieren, kämen in Friedenszeiten nie auf die Idee, sie könnten zusammenspannen. Der junge Sozialist würde die feine Tochter aus bürgerlichem Hause verachten, statt ihr aus ihrer misslichen Lage zu helfen, der Pfarrer um keinen Preis den kommunistischen Fischer um Hilfe bitten. Und für die Tochter selbst käme es niemals in Frage, dass sie sich in Kneipen von Matrosen anmachen lässt. Die Figuren verzichten unter Lebensgefahr auf ihre Ideologie, die ihnen in Friedenszeiten so sehr am Herzen liegt. Davon lässt sich eine handliche Regel ableiten, die jedoch etwas Vorstellungskraft erfordert, was in Umständen des Friedens mühselig ist, in tödlicher Gefahr aber schlagartig vor Augen steht:
Sei dir der Möglichkeit bewusst, dass du auf die Überzeugung, die du im Frieden so bissig verteidigst, unter Umständen des Krieges verzichtest.
Zugunsten anderer, die wie du in Not sind.
Kommentar verfassen