Den Namen des Ortes unterschlage ich. Es könnte eine Klage drohen. Genauso wie die Organisation hier sich systematisch gegen Klagen absichert, mit denen von allen Seiten zu rechnen ist. Liberalisierung klingt nach freundlicher Entspannung, wenn sie gesellschaftlich gemeint ist. Hier aber kommt sie in ihrer wirtschaftlichen Rolle daher. Das bedeutet Anspannung. Mittlerweile sollte man von einer Volkskrankheit sprechen.
Unter all den Krisen geht die Liberalisierung scheinbar vergessen. Aber es nähme mich wunder, wie man eine Krise bewältigt, indem man strikt nach liberalem Milchbuch auf die Freiwilligkeit aller Beteiligten setzt und daher Massnahmen bloss anempfiehlt, statt sie vorschreibt. An einem solch liberalisierten Ort in 36 Stockwerken Höhe mit Blick auf London und Themse verging uns die Lust auf die Nachspeise, einem so genannten künstlich gesüssten und mit Lebensmittelfarben versehenen Food-Design, sodass wir anfragten, ob man sie uns einpacken möge. Was sonst zu einem herzlichen Augenblick unter Menschen wird, wie er zu Grossmutters Zeiten gängig war, sobald man das Gewünschte wohlverpackt, aber sonst ohne viel Aufhebens überreichte, gerät hier zu einer juristischen Übung in mehreren Schritten. Das Personal weist uns an, sie müssten uns die Nachspeise auf jeden Fall zum Kosten servieren. Sofern zufrieden damit, hätten wir sie dann anzuweisen, das designte Gut einzupacken, da es uns ausdrücklich schmeckt. Damit war es noch nicht getan. Ein Formular wurde uns zu Sichtung und Unterzeichnung vorgelegt. Darin wies die Firma jede Haftbarkeit für Beschaffenheit sowie Bekömmlichkeit jeden Essens ab, wenn es aus der hauseigenen Brasserie wegbefördert wurde, nachdem es schon einmal aus genannten Räumlichkeiten entfernt worden war. Damit war wohl eine Bewegung gemeint, die hin zu des Kunden Teller gedacht sein soll. Beim Kunden verbleibt denn auch, wie das Formular weiter betont, die volle Verantwortung zur Sicherung des Essens vor Verschmutzung und zur Erhaltung angemessener Temperaturen.
Da fällt die Behauptung schwer, der freie Markt bringe nur mässig Bürokratie hervor. Unternehmen wie natürliche Personen machen sich unangreifbar für Klagen. Ein Bekannter im Aussendienst einer Versicherung erzählte mir, das Meiste, was er seit Langem zunehmend abschliesse, seien Rechtsschutzversicherungen. Man darf vermuten, dass Unternehmen wie natürliche Personen hoffen, einen Schadensersatz am besten in Millionenhöhe zu erwirtschaften, indem sie ein Fehlverhalten einklagen. Vor Gericht zu gehen, wird so zu einer Verdienstmöglichkeit. Und genauso unwirtlich wie der Umstand, dass eine solche Umwelt selbstverständlich geworden ist und dazu beiträgt, dass Menschen ausbrennen, genauso unwirtlich und kalt erschien mir auf einmal der gesamte Ort, über den ich mir zuvor keine ernsthaften Gedanken gemacht hatte. In einer Grossstadt mit Terrorerfahrung ist mit einer Sicherheitsschleuse im Eingangsbereich zu rechnen, wo Höflichkeit zum falschen Ton gehört und Pässe nach den Grundsätzen der Schleierfahndung wie am Zoll vorzuweisen sind. Die Luft roch stickig, schliesslich gab es nirgends ein Fenster zum Öffnen. Wir Gäste sassen eng zusammengepfercht, obgleich wir ein Entgelt darboten, das weit über dem Durchschnitt lag. Die Platzverhältnisse waren optimalst berechnet, wie in heutigen Zügen oder Bussen, wo man im Winter in dickes Daunen gehüllt mit seinen Sitznachbarn beim Pendeln beinahe Intimität geniesst. Wie in China. Wie in Japan. Irgendwann werden wir uns der ökonomisch einträglichen Enge wegen sogar den Kopf auf die nachbarliche Schulter legen, wie in den genannten Ländern üblich. Aber das wird nur oberflächlich das Herz ergreifen. Der Ort, eher Klinik als Gaststätte, erschien mir verwöhnt und verdorben durch eine Laufkundschaft, die beharrlich in Scharen hier Platz nimmt. Sollte man dies einmal tun wollen und sonst nie wieder, dürften immer noch Millionen von Besuchern zu erwarten sein. Der Wolkenkratzer kleiner bis mittlerer Grösse, in dem wir steckten, verbreiterte sich in der Höhe, was damit zu erklären ist, dass sich Wohnungen in höheren Lagen teurer verkaufen. Bei mehr Quadratmeter ergeben sich einträgliche Summen. Zwar gab es Pflanzen hinter dem Panzerglas der Fassade, jedoch Wohnlichkeit kam keine auf.
Dieses systemische Misstrauen, da niemand aus dem urwüchsigen Bedürfnis nach bestmöglicher Sicherheit etwas geradestehen lässt, sorgt für eine Kälte unter Menschen, bei der mir klar wird, dass alle erdenklichen Wege sich anbieten, damit man über kurz oder lang aus diesen Verhältnissen ausscheidet. Burnout zum Beispiel.
Unten angekommen wird mir klar: Wirklich frei sind die, die ihre Ansprüche so anpassen, dass sie bei bescheidenem Auskommen ihr Leben führen.
Auch dies ein Optimum im Stillen, das weder zu Hurra, noch zu Heldenphantasien Anlass gibt.
Kommentar verfassen