Für Fachunkundige: Ein INS-Kind ist ein Kind, das in die Regelschule einbezogen bleibt, trotz seiner Mühen, die beträchlich sind. Es wird also nicht in Kleinklassen abgesondert. In Augen der akademischen Tagespresse wie NZZ und Tages Anzeiger gilt diese Reform für gescheitert. Hier ein Beitrag aus der Praxis zur Stärkung dieser Ansicht.
Integration statt Absonderung hat soziale Bewandtnis: Das Kind soll weder Stigmatisierung noch Diskriminierung aushalten müssen. Dieses Anliegen ist respektabel wie jede Sorge, die auf leidvolle Missstände aufmerksam wird. Das heisst allerdings noch nicht, dass damit wie von selbst die Massnahmen gutgeheissen sind, die man daraufhin ersinnt, da mag man noch so pflichtbewusst bei der Sache sein. Jede Reform, die Noten vergibt, hat ihrerseits Noten anzuerkennen. Und zwar jederzeit. Ganze Generationen finden in einem bestimmten Anliegen zusammen: Nachkriegszeit, Umweltschutz, die Unsicherheit nach 9/11. Wenn ihre Massnahmen ein Leid aus der Welt schaffen sollen, von dem sie einen handfesten Begriff haben, sind sie für die Benotung ihrer Massnahmen nur mässig empfänglich. Während die Benotung bloss die Massnahmen betrifft, sehen sie das Anliegen verraten, das ihnen so am Herzen liegt.
Dazu folgende Erfahrung: Eines schönen Tages teilt die Schulleitung mit: «Auf Ende Semester bekommen wir ein INS-Kind». Der Witz kommt an, zumal das Kind schon längst dieses Schulhaus besucht, nun aber diesen Status zugesprochen bekommt. Ein INS-Kind also. Das Etikett sitzt. Da stellt man sich schon die Frage, wie sich das nun genau verhält mit der Stigmatisierung. Der Bub hat sogar einen Namen, nennen wir ihn Res. Von nun an ist Res derjenige Schüler, der eine Frau in bunten Kleidern und mit langen, grauen Haaren an seiner Seite hat. Keine Stigmatisierung, das steht fest. Die Situation ist vielmehr einer Methode geschuldet, die integriert und zugleich individualisiert. Res ist zudem der Junge, der andauernd fehlt. Denn er wird zur Logopädie abgerufen, zur Heilpädagogik, vielleicht sogar zur Psychomotorik. Keine Stigmatisierung, ohne Zweifel. Aber er verlässt vor aller Augen das Zimmer, wird aus dem Unterricht gerufen, wenn er den Anspruch enttäuscht, selber daran zu denken. Die Tür geht auf, die Fachkraft wartet, während alle auf Res schauen, wie er seine Unterlagen hervorkramt, wenn er sie denn findet. Selber daran denken gehört zum Zeitgeist, es ist ja nur drei Mal die Woche. Res hat eine Mutter, die ein Kind geblieben ist, während der Vater, ein Haudegen alten Zuschnitts, sich um Abwesenheit in der Familie bemüht. Zudem gab es bei Res eine Anomalie seit Geburt, die ihn zunächst am Sprechen hinderte. Der Bub erscheint daher selbst zurückgeblieben. Gewisse Zusammenhänge durchschaut er weder auf Anhieb, noch überhaupt. Pädagogen und Politiker der Integration haben Mitschüler vor Augen, die sich um das Ins-Kind kümmern, die so wunderbar Rücksicht nehmen auf jemanden, der Mühe hat. Das kommt vor. Aber der Alltag spricht auch eine andere Sprache.
Pädagogen und Politiker der Integration verkennen die natürliche Tatsache, dass Menschen zu Mitmenschen Abstand halten, wenn sie nicht richtig funktionieren.
In der Natur wird Leben, das sich anormal verhält, verstossen oder entsorgt. Das soll nichts entschuldigen, was unter uns Menschen abgeht, jedoch entlarvt es die Blauäugigkeit dieser strebsamen Idealisten. Anschluss an die Normalität behalten erklärt sich auch unter Menschen als eine Art Überlebenstaktik. Mitschüler, die mit Ins-Kindern zu tun bekommen, als wären sie Freunde, empfinden dies als Makel, besonders wenn die Beeinträchtigung mentaler Art ist. Der Ins-Bub Res buhlt daher um Anerkennung. Egal, was es kostet: Beim Wechsel der Schulzimmer schmeisst er sein Etui die Treppe hinunter. Es stellt sich heraus, dass er dazu angestiftet wurde. Ein anderes Mal sitzt er im Waschtrog des Zeichenzimmers. Aus dem gleichen Grund. So erntet Res Anerkennung. Und das hat er natürlicherweise nötig wie jeder Mensch. Auch wenn man ihn über den Betrug aufklärt, geniesst er diesen Zustand weiter.
Ernster wird diese Situation, als auf den Tisch kommt, dass das INS-Kind für Mobbing gegen andere eingespannt wird. Die Drahtzieher lassen sich leicht moralisieren, bösartig, wie sie sind. Aber die Bereitwilligkeit des INS-Kindes wirkt einfach zu verführerisch auf sie. Sie gelingt auf Knopfdruck. Auch diese Böslinge sind Kinder. Und statt dass man ihnen Predigten hält, sodass sie sich kaum getrauen, das Wort zu ergreifen, sollte man ihnen aufzeigen, wie man einer solchen Versuchung widersteht. Keine Ahnung, was hier zu sagen wäre. Da bemüht man viel Verstand, viel Einsichtnahme. Kinder jedoch handeln eher aus dem Bauch heraus.
Sowie auch viele Erwachsene. Vielleicht sogar Pädagogen und Politiker der Integration.
Aber nur schon die Anerkennung, dass diese Situation sie andauernd in Versuchung führt, vor allem wenn sie in Gruppenarbeiten auf sich gestellt sind, hilft den Böslingen, ihren Schritt zu tun und vom INS-Kind abzulassen oder es wirklich zu integrieren.
Wie so oft in der Menschheitsgeschichte setzen Verantwortliche Massnahmen durch, die einen Missstand beheben. Dabei übersehen sie Folgen, die das sorgfältigste Brainstorming niemals in den promethischen Blick bekommt. Auch schafft ihr Vorgehen neue Schwierigkeiten, die vorauszusehen übermenschlich wäre.
Bescheidenheit ist angeraten. Und zwar von der Sache her.
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