für Oscar Albin
Der altmodische Ausdruck Patina meint einen dünnen Auftrag auf Dingen wie Grünspan oder Firnisse. Genauso legen sich unsere Vorurteile auf das, was wir Umwelt nennen. Wenn Philosophie nützlich sein soll, dann dient sie als ein Putzmittel, diese hauchdünnen Schichten mit wenigen Argumenten abzuwaschen, damit der Sachverhalt darunter neu erstrahlt. So ging es mir mit Beethoven.
Emsige Erzieher machten uns Halbwüchsige damals mit klassischer Musik vertraut, damit wir zu besseren Menschen würden. Sie brachten Bach und Mozart, sodass es zum Verneigen war, auch Schubert kam zu Ehren, Beethoven jedoch nur mit Vorbehalt. Zwei Informationen zu ihm machten die Patina aus, sprich das Vorurteil, das sich mir, bis vor Kurzem, wie ein Film auf alles legte, was mit Beethoven zu hat. Die eine Information: Dieser Komponist habe seine Entwürfe andauernd korrigiert. Die andere: Beethoven habe seinen Jähzorn und sein aufbrausendes Temperament schamlos in seine Musik einfliessen lassen, sodass es für manche Zuhörer zum Fürchten gewesen wäre. Diese Unbeherrschtheit führte auch dazu, dass der Musiker mehrere Dutzend Male seine Wohnung in Wien und Umland wechselte. Die Möglichkeit, dieser Mensch könnte an einer Art Turett gelitten haben, blieb unerwogen. Auch Bach soll Schüler mit seiner Perücke traktiert haben, aber von diesem Wesenszug ist in seiner Musik nichts zu spüren. Bachs Zeit kannte auch keine Revolution und keinen Bonaparte. Die Menschen waren gebeutelt von drei düsteren Jahrzehnten voller Krieg. Beethovens Impulsivität haftet nun wie ein Makel an seiner Musik, eben wie die Patina eines Vorurteils. Vor allem die anthroposophisch Angehauchten unter meinen Erziehern richteten sich dabei ganz nach dem Urteil Goethes über Beethoven, das bekanntlich peinlich ist, zumal der Dichter sich jeweils von einem mittelmässigen Musiker namens Zelter beraten liess. Goethe scheint seine eigene Figur verkannt zu haben, indem er der Überzeugung war, nur Mozart hätte seinen Faust angemessen vertonen können. Für Fachleute steht jedoch fest: Ein von Beethoven in Musik gesetzter Faust wäre zu einem Monument abendländischer Kultur geworden.
So geriet Beethoven für mich zu einem Komponisten, der an seinem Werk herumbastelt und sich dabei die Haare rauft, gegen Wände hämmert und bleiversetzten Wein hinter die Binde kippt, der ihn taub macht. Bei allem, was ich von ihm hörte oder spielte, sah ich jemanden am Werk, der um jeden Preis nach Effekten hascht, der baut und werkelt, statt wachsen lässt. Stein um Stein wird gefügt und geschaut, was dabei Interessantes herauskommt.
Das Gegenteil ist bei Beethoven der Fall. Aber das blieb mir über Jahre verborgen.
Letzthin, als ich mir wieder ein paar Klaviersonaten aus seiner Feder vornahm, klickte ich mich beim Abwasch durch Dokumentationen zu Beethoven, eher aus Langeweile denn aus Neugier. Ein Kenner von Beethoven meinte punkto seiner Korrigiererei, der Komponist habe die Dinge immer neu entworfen. Da stutzte ich. Und ich überlegte, wenn man die Dinge neu entwirft, wird immer das Ganze anders ausgerichtet, statt dass man an Einzelheiten herumtüftelt. Denn wer mit der ganzen Figur arbeitet, wendet nach morphologischem Grundsatz die gesamte Intelligenz auf, die ihm zu Verfügung steht, während jemand, der an Einzelheiten ängstlich stur herumschraubt, das Ganze aus dem Blick verliert. Mozart hatte immer das Ganze im Auge, als wäre es ein Taschenspiel, aber ihn bewegte auch die unerfüllte Sehnsucht nach Mathematik. Davon war Beethoven weit entfernt. Zum Glück, wie mir klar geworden ist. Aber man sollte keinen von den dreien, weder Bach, weder Mozart, noch Beethoven zum wertenden Vergleich aufbieten. Es sei denn, zu dem Zweck, sie einzeln wechselseitig klarer zu machen. Ihre Grössen sind sonst diskret voneinander. Dieser Hinweis jedenfalls hatte zur Folge, dass sich meine Patina aufzulösen begann: Wer immer vom Ganzen ausgeht, tut dies auch beim Ausfeilen seiner Einzelheiten. Beim Herumbasteln an ihnen.
Und im Nu offenbarte sich mir die atemberaubende Organik der Kompositionen Beethovens.
Sie kam unter der Patina hervor.
Als Laie kann ich mir ein Ohr leisten, das seinen Eindrücken freien Lauf lässt: Bei Beethoven schwellen Hochwasser an. Da baut sich Druck auf, langsam oder jäh, sehr oft von Gangschaltung zu Gangschaltung. Oder etwas birst empor wie bei Geysiren. Schüsse schlagen ein. Da ranken Gewächse ineinander verwickelt in die Höhe, oder sie schlagen aus. Da gräbt und gründelt es in Tiefenschichten. Da springt ein Hulk immer weitere Bögen, bis er eine Landung vollzieht, die einen Anker tief in bebende Böden schlägt. Beethovens Entwürfe stellen immer das Ganze der Figur vor, die Figur wird als Ganzes ersetzt. Sie greifen weit. Weiter, höher, tiefer, als es mit einer singbaren Melodie gelingt, an der ein Schubert in wunderbarer Weise hängen blieb. Dass Beethoven Module von Tonfiguren aneinander und ineinander fügt, macht ihn von der Melodie unabhängig. Und das führt zu diesen gigantischen Architekturen.
Eine weitere Information, die zur Auflösung der Patina beitrug, war der Bescheid, den ich bekam, nämlich dass Beethoven seine musikalische Karriere als überaus begabter Improvisator begann. Eine Kunstfertigkeit, bei der man Einzelheiten variiert, wobei man jedoch die Ganzheit, zu der sie gehören, im Blick behält. Eine Variation begeistert nur, wenn sie den Bezug zum Thema lesbar beibehält, also zu ihrer Ganzheit. Meine Schwärmerei jedoch gilt hier Beethoven nur mittelbar. In erster Linie fasziniert mich die Erfahrung, die einen beglückt, wenn man eine Patina der Selbstverständlichkeit verliert. Alles erscheint auf einen Schlag anders als vorher. Die gesamte Gestalt, also Beethovens Werk und Person. Zuvor war ich behindert, mir diese Welt anzueignen. Nun steht sie mir insgesamt zur Verfügung.
Vorurteile leisten ihren unverzichtbaren Dienst, wenn man neues Terrain betritt. Hält man jedoch daran fest, verkommen sie zu dieser Patina der Selbstverständlichkeit, die uns womöglich vor Welten schützt, sie uns aber auch vorenthält. Will man sie grundsätzlich verhindern, was ich für empfehlenswert halte, dann muss man nur tätig Informationen zu einem beliebigen Sachverhalt sammeln.
Mein Leben will ich so führen, dass sich mir Welten erschliessen.
Oder verschliessen, wenn ich sie zu kitschig sah.
Denn der Verlust eines Vorurteils kann auch ernüchtern. Das erklärt, warum man gewisse Informationen, die das Leben uns beharrlich zuträgt, entweder überhört oder sie einfach für unwahr hält. Es wäre zu kostspielig, sie zuzulassen, da sich so der gesamte Sachverhalt, der uns am Herzen liegt, dieses ganze Stück Welt schlagartig verändert. Da empfiehlt sich denn eine wirklich philosophische Einstellung, die jede Information begrüsst, wenn bloss die Sichtweise ihren Schwerpunkt endlich verschiebt, oder sogar kopfüber in ihr Gegenteil kippt.
Warum auch nicht? Meine völlige Ablehnung des ganzen Beethoven verkehrte sich so in die völlige Zustimmung von Person und Werk.
Und zwar auf einmal. Was mich immens entzückt.
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