Das Meiste von dem, was wir von uns geben, wenn wir fremdes Verhalten beurteilen, sind blanke Unterstellungen. Wir massen uns an, das intime Leben einer anderen Person mit seinen Motiven und Strategien genaustens zu durchschauen. Dabei verhält es sich wie bei Schrödingers Katze: Wir müssten diese Intimität knacken, um die Bestätigung zu bekommen, wie es bei Schrödingers Gedankenexperiment auch vorgesehen wäre. Aber das gelingt selbst in engsten Bindungen kaum, wo man sogar trotz geteilter Intimität unerkannt leben kann.
Schrödingers Katze sitzt in einer geschlossenen Box, die keinen Einblick zulässt. Dem Tier wurde eine Gaskapsel um den Hals gehängt, die nach einem Zufallsmechanismus ihren tödlichen Inhalt freisetzt. Von aussen gesehen urteilen wir: Die Katze lebt oder sie lebt nicht. Eigentlich müssten wir beides zugleich annehmen, da beides jederzeit als Möglichkeit der Fall ist. Aber das ist für uns undenkbar, da es ausgeschlossen ist, dass beides zeitgleich zutrifft. Das ganze Gedankenexperiment illustriert Mängel bei der Übertragung der Quantenmechanik auf die Welt überhaupt. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass wir uns schlicht und einfach in unser Nichtwissen bescheiden, was den Zustand der Katze anbetrifft.
Denn diese Haltung wäre auch vorbildhaft bei der Beurteilung fremden Verhaltens. Es zählt als Gebot der Aufklärung, dass wir ein möglichst ausgewogenes Urteil über andere fällen. Zunächst fällt jedoch auf, dass wir, wenn wir, selbst mit guten Gründen ein Fremdverhalten bedenklich bis verabscheuungswürdig finden, nie danach fragen, ob wir über sämtliche Informationen verfügen, die zu dem Fall einschlägig wären.
Wer bestätigt mir, ob ich alles Nötige weiss, damit mein Urteil fair ausfällt? Eigentlich niemand. Am ehesten aber die Person, die beurteilt wird.
Allerdings nur, sofern sie sich über ihre Absichten und Vorgehensweisen im Klaren ist. Was keineswegs immer garantiert ist. In diesem Fall würde es also nichts helfen, wenn man ihre Intimität öffnete wie die Schachtel mit Schrödingers Katze darin. Konkrete Beispiele mögen die Sache klären: Er sieht sie an, ungebührlich lange, eine Passantin in der Wartehalle, sie rutscht auf ihrem Sessel herum, wird ärgerlich, als er seinen Blick wiederholt, und zwar mehrmals, bis sie ihn zur Rede stellt, was ihm denn einfalle, fremde Frauen so gierig anzustarren. Der Mann erschrickt, er entschuldigt sich, er sei sich nicht sicher gewesen, ob er sie nicht von früher kenne. Das lässt sie nicht gelten, er mag seine Entschuldigung wiederholen, wie es ihm beliebt. Sie verschränkt die Arme, blickt erwartungsvoll zur Anzeigetafel. Wie kann sie wissen, was tatsächlich in dem Mann vorgeht? Sie hat keine Ahnung. Vielmehr begreift sie, was sie umgibt, nach dem Richtmass ihrer Gewohnheit. Und das kann man niemandem verargen, aber es sollte klar sein, dass es sich um eine Unterstellung handelt.
Welchen Grund der Mann hatte, die Frau derart anzusehen, weiss nur er selbst.
Ein Schüler steht auf dem Sprungbrett, bereit zum Kopfsprung, zieht sich sehr bald zurück mit der Begründung, er könne das nicht. Die Lehrkraft sieht das anders. Sie berichtigt: Du willst nicht. Und sie bleibt dabei, obgleich der Junge ihre Ansicht scharf zurückweist. Dann soll er es beweisen, bekommt er zu hören, aber er weigert sich, erneut das Brett zu besteigen, was die Lehrkraft als Beleg dafür nimmt, dass er nicht will, während er stur bleibt aufgrund ihrer Unterstellung, die zweifellos respektlos ist. Es ist ohnehin fraglich, wie man von aussen entscheiden soll, ob jemand etwas nicht kann oder es nicht will. Nach meiner Erfahrung nimmt man die Person einfach beim Wort, egal wie alt sie ist. Dies in Rücksicht darauf, dass ich unmöglich ihre Intimität knacke wie die Schachtel mit Schrödingers Katze. Anbei hätte auch dieses Vorgehen einen erzieherischen Wert, was aber besser kein Beweggrund sein soll. Denn wenn die Person vorschützt, etwas nicht zu können, wird sie, beim Wort genommen, früher oder später nachdenklich über sich selbst.
Ein Kind stösst sich das Knie, die Stelle schmerzt, gleichwohl schielt es danach, ob die Erwachsenen, die gerade zugegen sind, sein Widerfahrnis schlimm finden oder nicht. So bekommt es Zuwendung oder es trollt sich woanders hin. Manchmal fliessen Tränen erst dann, wenn Erwachsene ihre Betroffenheit kundtun. Ob das Kind nun diese Anerkennung berechnend erwirkt, damit es in Genuss davon kommt, oder ob es sich einfach tollpatschig benimmt, lässt sich von aussen unmöglich entscheiden. Was immer wir für zutreffend halten, es kann nur Unterstellung sein. Angenommen, das Kind hat aus Vorsatz gehandelt, hat uns also bösartig manipuliert, wie es heisst, so könnten wir annehmen, statt es zu massregeln, seine Vorsätzlichkeit rühre eben präzise von einem Mangel an Zuwendung her. Und in Anbetracht der Prämisse, dass alle Menschen aufgrund ihrer Natur Zuwendung und Anerkennung in irgendeiner Form benötigen, damit sie nicht verkümmern, sollte man wiederum, statt eine Strafe oder eine Predigt abzuhalten, Wege und Mittel in Gang bringen, damit dieses natürliche Bedürfnis gestillt wird.
Eine Mittvierzigerin lässt sich gehen. Aus welchen Gründen auch immer. Die Angehörigen sind besorgt, klopfen an ihre Tür, es riecht nach Schnaps und Gras. Sie schickt sie weg, ohne Erfolg. Irgendwann antwortet sie nicht mehr, aber man hört einen Stuhl rücken, eine Tischschublade wird aufgezogen. Die Theorie steht fest: Die Tante, die Schwester hat sich aufgegeben. Die Angehörigen übersehen, wie es leicht zu verstehen ist, dass sie eine Art Schwitzhütte durchläuft, die so lange dauert, wie es in diesem Alter eben nötig ist. Nach ein paar Tagen steht sie da, kämmt sich, schminkt sich, einen Song trällernd, verlässt das Haus, holt weit aus, die besonnte Strasse hoch, als nähme sie Anlauf für Neues. Im Gespräch meint sie, es sei erlösend, wenn man zuunterst ankomme. Wenn es nicht mehr weitergehe. Man sinke wie auf den Grund eines Sees. Erst dann könne sie wieder abstossen. Vorher nicht. Dabei grinst sie, denn es wird klar, dass sie diesen Prozess schon öfter durchlaufen hat.
Sie weiss genau Bescheid über sich selbst.
In einer leutseligen Runde wird fleissig herumfotografiert. Ein Paar hat es in der Ecke bequem gemacht. Jemandem fällt auf, dass der Partner, wann immer in ihre Richtung fotografiert wird, sich vorbeugt und so seine Frau jeweils verdeckt, während er in den Sucher grinst. Das findet man empörend. Das Urteil steht fest, ohne dass auch nur ein Funken an Information dazu greifbar wäre: Der Mann ist ein Narzisst. Und man bedauert die Frau, die sich nicht zu wehren weiss. Ihre offenkundige Teilnahmslosigkeit wird so verstanden, dass sie es längst aufgegeben hat. Später, draussen am Buffet oder in der Tür beim Abschied stellt jemand klar, die Frau empfinde es seit Kindesbeinen an als eine Art Hinrichtung, wenn sie fotografiert werde. Die Gründe seien weder ihr noch anderen geläufig. Daraus folgt, dass ihr Partner, indem er sich vorneigt, die Frau jeweils vor diesem Missbehagen beschützt.
Ein Mann möchte sein Leben verändern. Allerdings kann er vor sich selbst nicht entscheiden, ob er sich dazu genötigt fühlt, oder es tatsächlich möchte. Daraufhin befragt, würde er sagen, das Gefühl verändere sich laufend. Nun jätet er einen verwilderten Garten frei, was er schon lange vorhatte, und schreibt sich bei einem Fernkurs ein. Also kauft er Setzlinge, Feldsalat, Karotten, Basilikum, Kamille. Die Aufgaben für den Fernkurs erledigt er nach einem festgelegten Zeitplan. Der Start glückt. Nach einer gewissen Zeit gerät der Mann in Panik, wenn etwas misslingt, sei es eine falsch gelöste Hausaufgabe, oder ein Keimling, der vorzeitig welkt. Nach einem halben Jahr schliesslich ist der Garten erneut überwuchert, und die Hefte stapeln sich auf dem Küchentisch. Von aussen gesehen steht fest: Der Mann hat versagt. Eigentlich müsste er sich zurückziehen, auch dass er vor Mitleid und Fremdschämen seiner Freunde bewahrt bliebe. Aber er verkehrt nach wie vor vergnügt unter ihnen. Auf seine Projekte hin befragt, meint er, leider habe er keine Lust mehr gehabt. Es gebe ja noch andere Dinge im Leben. Man glaubt ihm nicht, hinter vorgehaltener Hand. Fragen, die tiefer gehen, erübrigen sich, unter Umständen wären sie zu kostspielig. Die Unterstellung ist mit Händen zu greifen. Man tut so, als blickte man unmittelbar in die Schachtel mit Schrödingers Katze. Aufgrund dieser Ignoranz ist mit Personen zu rechnen, die ihre neu gefassten Vorhaben grundsätzlich für sich behalten, damit sie ihr mögliches Scheitern später nicht zu rechtfertigen brauchen. Eine Art Vorsorge aus intim ökonomischer Sicht.
Der Mann hatte Gründe, die Projekte anzugehen. Somit wäre es nur nahe liegend anzunehmen, dass er wiederum für ihren Abbruch Gründe fand. Man könnte auch sagen, ihm seien weitere Gründe zugestossen. Das Leben versorgt uns ja alle mit Gründen. Warum wir jedoch bei der Beurteilung seiner Sache an dieser Grossherzigkeit scheitern, muss kein Rätsel bedeuten:
Denn wir haben zu sehr mit eigenen Unschärfen zu tun, als dass wir auch noch an unseren Mitmenschen herumzudeuten die Reserve hätten. Ihr Fall soll rasch klar liegen.
Auch dies ist einer natürlichen intimen Ökonomie geschuldet, die zu verurteilen mir schwerfiele.
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