Sich entspannen ist das Beste, was man tun kann, wenn Corona wütet, Energieenpässe drohen oder das Klima aus dem Ruder läuft. Aber wie macht man das? Unter solchen Bedingungen?Sein Leben entspannt führen mutet beinahe schon als Luxus an, wenn man sieht, wie nach Jahren eines regelmässig wiederkehrenden Ausnahmezustands nun die Inflation den Leuten zusetzt. Dabei sollte man gerade jetzt bedenken, dass entspannte Menschen sich auch sozial verträglicher benehmen. Also gehörte Entspanntheit auf die Liste der Kennzeichen für Sozialkompetenz. Entspanntheit gehört zum Gebot der Stunde. Ein neuer, ungewohnter Imperativ setzt ein, nämlich dieser: Nutze Mittel und Wege, über die du zur Entspannung gerade verfügst, und zwar mental wie körperlich, damit du dich für andere verträglich verhältst. In den Tagen meiner Corona-Isolation erlebte ich eine beispiellose Tiefenentspannung, die darauf beruhte, dass die Umwelt draussen verblieb, ohne Ansprüche an mich zu richten. Aber auch eine gewisse Angstfreiheit spielte dabei mit, die mich keineswegs als mutige Person auszeichnet. Vielmehr beruht sie darauf, dass ich in meinem Leben bisher durch Zufall vor Schlimmerem verschont geblieben bin.
Angstfreiheit lässt sich nicht verallgemeinern. Daher geht dieser Imperativ nicht auf. Der Ratschlag, ziehe dich zurück, schliesse dich ab, lasse draussen, was dich daran hindert, und versinke in Entspannung, für dich wie für andere, klingt reizvoll und schillernd nach einem Marketing, das wie üblich an der Oberfläche bleibt. Gewisse Leute mögen sich an Orten absondern, die keine Ansprüche stellen. Ihr Leben mit all seinen Verwerfungen und düsteren Aussichten nehmen sie überallhin mit. Es klebt an ihnen wie eine zweite Haut. Die Weimarer Republik bedeutete für viele Deutsche ein langes Jahrzehnt voller Ohnmacht und Todesangst. An Entspannung war in keinem Augenblick zu denken. Das plumpe Marketing erreicht solche Leute nicht. Krisen schüren Ängste. Und Ängste zeigen sich zuletzt immer als Angst vor der restlosen Vernichtung seiner selbst: Eben als Todesangst.
Aber damit ist die Sache noch nicht erledigt. Bekanntlich lässt nicht der Tod an sich Menschen vor ihrem Leben erstarren, sondern die Schuld, die sie ungesühnt zurücklassen. Darin verrät sich ein tiefer Glaube daran, dass es weitergeht. Das Konzept des Jüngsten Gerichts steckt uns noch tief in den Knochen. Es scheint der Fall zu sein, dass niemand vor seinem Ableben glücklich ausruft, nun werde er endlich die Last lossein, die ihm langjährige Schulden aufgebürdet haben. Die Frage stellt sich also wie folgt:
Wie entspannen wir uns angesichts dessen, dass wir schuldig sind? Oder dass wir uns Schuld einhandeln, gerade weil wir uns entspannen?
Gerne erinnere mich an ein Medium, das für einen bescheidenen Pauschalbetrag viel Nützliches mitteilte. Die schuldhaften Verwerfungen meines Lebens, die mich verbittern, sah sie in die richtigen Zusammenhänge gebettet. Und das zauberte ihr jeweils ein Lächeln aufs Gesicht. Ein Lächeln, das uns in solchen Momenten fehlt. Also halten wir uns am besten an die Erkenntnis eines solchen Mediums, damit wir uns für uns selbst wie für andere entspannen. Aber leider lässt sich auch dies kaum verallgemeinern. Denn man kann von niemandem erwarten, dass er einer Person einfach so Glauben schenkt, die sich als Medium anpreist.
Jenseits des Lächelns einer solch hellsichtigen Person hält uns Schuld befangen. Aber was ist Schuld genau? Schuld ist als Norm unter Menschen entstanden. Abgesehen von einer Erbschuld, die aufgeklärte Menschen höchstens als Entlastung Einzelner von ihrer persönlichen Schuld begreifen, erklärt sich Schuld gängigerweise als Ergebnis eines Fehlverhaltens. Dabei steht fest, dass wir Schuld von anderen zugesprochen bekommen. Zwar gibt es Leute, die sich selbst beschuldigen. Aber sie haben, wie wir alle, diese Schuld nicht erfunden, sondern übernommen. Ihr freimütiges Schuldeingeständnis dient ihnen als erster Schritt zu tätiger Reue. Gerade fromme Menschen versprechen sich davon eine Sühnung, die sie in ihrem Glauben erstrahlen lässt.
Wichtig ist: Bestätigung bekommen wir immer von anderen, ob es nun um Schuld oder um Sühnung geht. Aber was führt dazu, dass wir anderen Schuld zuweisen? Ihr Fehlverhalten, gewiss. Aber das Leben strotzt vor Fehlern. Wenn man Natur und Geschichte betrachtet, kommt man zum Schluss, Fehler wirkten sogar als Antrieb zu dringender Veränderung. Fortschritt ohne Fehlverhalten ist undenkbar. Wir können unmöglich die Resultate günstiger Veränderung hochloben, während wir gleichzeitig die Schuld verdammen, aus der sie hervorgegangen sind. Mit Blick auf Judas: Jemand musste Verrat begehen, damit das Mysterium auf Gologatha sich vollzog.
Fehler beugen einer Schläfrigkeit vor oder einer Nachlässigkeit, die einen schleichenden Niedergang bedeutet. Die Urheber solcher Fehler sollte man folglich nur mit Bedacht mit Schuld beladen. Systemisch gedacht haben ihre Fehler zur Folge, dass die Ordnung, in der sie geschehen, sich reproduziert. Das heisst, sie verstärkt sich in ihrem Funktionieren, in ihren natürlichen Abläufen. Fehler sei Dank, sollte man schlussfolgern.
Und somit: Schuld sei Dank!
Aber dieser sachliche Gleichmut wird schmerzlich vermisst. Auch wenn die systemische Beschreibung der Welt uns in die Lage bringt, den Nutzen von Fehlern und der Schuld ihrer Urheber zu erkennen, stellen wir angesichts gegenwärtiger Krisen erneut Schuldige an den Pranger. Von Aufklärung nach wie vor keine Spur. Auch im Westen. Daher ist es höchste Zeit, dass klargestellt wird:
Schuld ist die Todesangst der anderen.
Das Argument zu schamloser Entspannung könnte wie folgt lauten: Ich habe wie alle schon mit meiner Todesangst zu tun. Also lasst zur Entspannung mich von allen Ansprüchen meiner Umwelt abschotten. Es wird nicht von Dauer sein, ich kehre ja wieder daraus zurück. Erfrischt und gestärkt für alle, mit denen ich lebe. Es verbietet sich, dass ihr mir eure Todesangst als Schuld aufbürdet. Denn was immer meine Fehler sind, die meine Schulden ausmachen, es sind zugleich Fehler und Schulden des Lebens selbst. Das Leben benötigt sie wider die Schläfrigkeit und ihrer Schwerkraft, damit es sich fortentwickelt. Diese Einsicht sollte genügen, um sich zu entspannen.
Mit allen Mitteln und auf allen Wegen, die gerade verfügbar sind.
Für sich und für andere, mit denen wir leben.
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