Noch einmal: Wenn wir im Alltag Fremdverhalten beurteilen, handelt es sich zuallermeist um blanke Unterstellungen.
Jemand erleidet immer wieder Migräneattacken. Die Person bereut Vieles von früher, sie verurteilt Vieles in ihrem gegenwärtigen Leben, auch sieht sie ihre Zukunft verstellt von vielen Schwierigkeiten. Überall ein Nein, in der Vergangenheit, in der Gegenwart, in der Zukunft. Ihr Leben ist verbaut davon. Angesichts dieser Lage lässt man sich zu einer problematischen Schlussfolgerung hinreissen: Gerne heisst es, bei so viel Nein müsse man ja Migräne bekommen. Zurecht verärgert stellt die Person klar: Das viele Nein rühre eben daher, dass sie immer wieder Migräne habe.
Im Alltag wird das gerne hinter vorgehaltener Hand als Schönfärberei eines übersensiblen Menschen abgebucht. Begreiflich zwar, wie es mit viel Bedauern heisst, aber es fällt auf, dass die Theorie der betroffenen Person über sich selbst dabei keine Rolle spielt. Die Frage gilt als geklärt: Was bewirkt was? Das viele Nein die Migräne oder die Migräne das viele Nein? Würde dieser Sachverhalt wissenschaftlich bearbeitet, müsste ein ganzes Team ein happiges Quantum an Informationen aus dem Leben dieser Person zusammenstellen, sichten und ordnen. Es wären wohl Gehirnscans durchzuführen. Auch würde die Person, die es betrifft, immer wieder befragt, schliesslich behauptet die eine Theorie einen psychosomatischen Zusammenhang, der beträchtliche Schwierigkeiten bietet, wenn man kausale Verbindungen belegen möchte. Und vor allem müsste man vergleichbare Fälle finden, damit sich die These von der kausalen Verknüpfung statistisch erhärten liesse. Im Übrigen stellt Migräne einen Sachverhalt dar, der wissenschaftlich keine vergleichbare Eindeutigkeit geniesst wie Bluthochdruck und seine möglichen Folgen. Diese weiteren Fälle also müssten ihrerseits methodisch einwandfrei aufbereitet sein. Die kausale Verknüpfung gälte erst dann für belegt, wenn diverse Gegengutachten zum gleichen Schluss kämen.
Im Gegensatz zu diesem Aufwand kommen wir sofort zu Klarheit, ohne dass wir auch nur einen Finger krümmen. Sozusagen zwischen Tür und Angel. Dieser Vergleich legt ein drastisches Missverhältnis bloss, das zeigt, wie übergriffig wir urteilen.
So erscheint es nur folgerichtig, wenn Menschen sich vor Menschen schützen.
Diese erbärmliche Übergriffigkeit im Urteil wird gerne moralisiert. Es fertigt jemanden ab, ohne dass man genauer hinsieht oder hinhört. Wer so moralisiert, geht eben so vor: Man verfügt über wenig Informationen zu einer verzwickten Sachlage, das Urteil aber, das rasch gefällt wird, betrifft diese Sachlage insgesamt. Übergriffigkeit im Urteil erachte ich eher als Ausdruck intimer Ökonomie: Wer sich eingehend mit den Problemen anderer beschäftigt, damit er zu einem fairen Urteil über sie gelangt, mag als Gutmensch erscheinen. Tatsächlich aber verfügt diese Person über die nötigen Ressourcen dafür. Und das kann auf Zufall beruhen. Die rüden Moralisierungen unter uns sorgen für ungesunde Spannungen, die anhalten. Notorisch beruhen sie auf einer dürftigen Informationslage zu einer Sachlage, die sie dennoch aburteilen. Nun lässt sich so damit umgehen, dass man in dieser übergriffigen Person einen Menschen erkennt, der von sich und seinen Angelegenheiten derart in Beschlag genommen ist, dass er zu einem fairen Urteil über fremde Belange ausserstande ist. Das hilft dazu, dass man sein Gerede nicht persönlich nimmt, auch wenn man ursprünglich dazu Anlass gab.
Die Lebenslage der Person, die übergriffig urteilt, trägt zur Negativität ihres Urteils genauso bei, wie das angebliche Fehlverhalten von irgendjemandem.
Wie aber beurteilen wir nun die Person, die über Migräne klagt und das viele Nein in ihrem Leben kundgibt?
Am besten gar nicht. Oder wir nehmen sie einfach beim Wort.
Wenn es in der Philosophie um Schmerzen oder um Wünsche geht, also um kognitive Zustände, dann heisst es immer, die einzelne Person habe einen privilegierten Zugang zu dieser Welt und niemand sonst, indem sie ihre ganz persönlichen Schmerzen aussteht oder ihre ganz eigenen Wünsche hegt. Daraus lässt sich schliessen, dass sie auch als erster Anwalt oder Sachwalter ihrer intimen Angelegenheiten zu würdigen wäre.
Also nehme ich sie beim Wort und sage: Bei dir folgt das viele Nein einem Migränenleiden, von dem ich keinen Begriff habe. Nicht umgekehrt.
Mehr kann ich nicht wissen. Daher wäre alles andere blanke Unterstellung.
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