Erzieher sind zu bemitleiden. Wie sollen sie ihren Schutzbefohlenen Vertrauen schenken? Die Frage verweist auf die Antwort: Sie sollen sie ihnen schenken. Immer wieder. Aber eben: Wie macht man das?

Zunächst dies: Erziehen ist das falsche Wort. Es könnte aus der Botanik stammen, wo man Bohnen zieht und Anderes. Aber auch dieser Ausdruck verfehlt den Sachverhalt, bildet ihn falsch ab, denn niemand zieht an Pflanzen. Vielmehr ist es so, dass man rankenden Gewächsen wie der Rebe Stützen gibt, an denen sie emporwächst. Man braucht nur ihre Ruten zwischen den Drähten einzufädeln. Dadurch wird die Pflanze hochgeführt, scheinbar eben hochgezogen. Statt Erziehung wäre Er-Haltung der passende Ausdruck. Oder einfach Haltung.

Aber es verbietet sich, Kinder zu halten wie Haustiere. Das liegt an einer überholten Auffassung vom Tier, die es zur Sache herabwürdigt und damit zum blossen Besitzgut. Wenn ich aber davon ausgehe, dass Tiere intelligente Lebewesen sind, spräche auf einmal wenig bis gar nichts gegen eine Haltung von Kindern.

Zu dieser Haltung oder meinetwegen Erziehung gehört wesentlich: Das Kind benötigt für seine Entwicklung Vertrauen wie Milch. Und zwar täglich, wie es sich für Milch gehört. Nicht nur als einmaliger Vorschuss, der sich leicht verspielen lässt. Die Frage nach tätigem Vertrauen Kindern gegenüber entzündet sich daran, wie viele Chancen wir ihnen zugestehen sollen. Dazu ein Beispiel: Über dem Arbeitsraum meines Schulzimmers führt eine Klappe mit Falttreppe auf einen Dachboden hoch. Trotz Sicherheitsbedenken übergab ich den Zwölfjährigen diesen Raum zur freien Gestaltung. Zwar schleppten sie Teppichreste herbei und ausgemusterte Sitzsäcke, aber sie schmuggelten auch Salzgebäck und Süssigkeiten hoch. Damit brachen sie mein Vertrauen schon in der ersten Stunde. Nun hätte ich den Dachboden wieder schliessen können, mit dem sauren Hinweis, sie hätten ihre Chance bereits vertan.

Entscheidend ist, dass ich nur eine Chance vergebe. Warum nicht zwei oder drei? Diese hartherzige Massnahme legt eher die Unsicherheit der Person bloss, die gerade erzieht. Probehalber lässt sie die Zügel schleifen, aber nur bis zu den Fingerspitzen.

Das ist weder Vertrauen noch sein eigentliches Gegenteil, also auch keine Gleichgültigkeit.

Es ist blankes Misstrauen.

Folglich keine Milch, sondern Scheisse.

Am besten lasse ich Chancen auf Kinder regnen. Das klingt naiv, ist aber durchaus methodisch. Man werfe dazu einen Blick auf Sportler. Diese bekommen im Training Chancen zuhauf, ebenso bei Wettkämpfen. Scheitert eine Athletin, legt sie ihre Lage genaustens auseinander und nimmt sich Verbesserungen vor. Für das nächste Mal. Also für die nächste Chance, die ihr immer wieder gewährt wird, solange sie den Sport ausübt.

Wenn ich also den Kindern zahllose Chancen zugestehe, richte ich mich nach dem Vorbild Sport. Trotzdem könnten viele Erwachsene die Bedenken haben, ihnen würde ein wirksames Druckmittel genommen, sollte es Chancen nach Belieben geben. Ein junger Vater sagte einmal, er werde seinem Buben um keinen Preis einfach so vertrauen, so dumm sei er gewiss nicht. Mit Sicherheit bleibt er für die Ein-Chancen-Erziehung empfänglich. Im grundsätzlichen Misstrauen findet er die nötige Sicherheit. Eine Kollegin ging einen völlig anderen Weg. Sie betonte, ihre Kinder gedeihten, gerade weil sie ihnen bedingungslos vertraue.

Sicherheit und Vertrauen, insofern es echt sein soll, schliessen einander aus. Vertrauen bedeutet immer, dass ich mich ausliefere. Diese Einsicht jedoch ergibt noch keine Methode. Hingegen kann ich als Erzieher bei Kindern und sonstigen Heranwachsenden jederzeit abstrichlos darauf vertrauen, dass sie das Zeug haben, erwachsen zu werden. Selbst dann oder gerade dann, wenn sie einen Anspruch mehrfach verbocken.

Zu dieser Grundlage muss man sich nur entscheiden. Keine Bedingung sonst schränkt sie ein.

So kommen wir in die Lage, dass wir Heranwachsenden die nötige Milch zu ihrer Reife verabreichen.