Konflikte sind schwer zu durchschauen. Wie eben der Ukraine Krieg. In diesem Wust von Propaganda und Theorien entgeht uns völlig, wie einfach solche Konflikte zu verstehen wären. Vielleicht verraten Streitfälle im Kleinformat, was es mit dieser Einfachheit auf sich hat. Wie etwa der beinahe Streit unter zwei Müttern von Schulkindern.

Ein Junge mit verminderter Impulskontrolle wird bei einer zierlichen Mitschülerin gerne angriffig, die sich ohne Mühe angepasst verhält. Ihr gelingt eigentlich alles. Und genau dies weckt den bissigen Neid des Jungen, sodass er ihr im Frühjahr einen Reissnagel in den Rücken drückt. Zum ersten Mal verliert das Mädchen die Fassung. Abrupt rammt sie ihm ihre leicht stumpfe Bleistiftspitze in den Unterarm. Der Junge alarmiert mich empört, wobei er die Sache mit dem Reissnagel natürlich unterschlägt. Wie immer heisst es: Habe nichts gemacht. Oder: Die ist einfach so auf mich los.

Eine vorsätzlich beschränkte Sichtweise. Sie ist  ebenso auf weltpolitischem Parkett gängig.

Auch die Klasse hat vom Reissnagel nichts, von der ungewohnten Attacke mit dem Bleistift jedoch alles mitbekommen. Zwar gelingt es mir, die Sache unter den beiden zu klären. Dennoch sieht sich die Schülerin auf dem Heimweg einer Hetze anderer Kinder ausgesetzt, für die auf der Hand liegt, dass sie den Jungen zu Unrecht so angegangen ist. Am Abend läuft bei mir das Telefon heiss. Die Mutter des Mädchens erklärt die Schonzeit des kleinen Psychos für beendet. Keine falsche Rücksicht mehr. Seiner Mutter werde sie jetzt gehörig die Meinung geigen, damit hier Druck aufgebaut werde. Ich versuche zu beschwichtigen, merke aber sehr bald, dass es zwar nicht gerade um Leben und Tod, aber sehr wohl um das Leben geht.

Der Konflikt verlagert sich in eine halböffentliche Zone zwischen zwei Familien. Gewisse Intimitäten bleiben dabei verdeckt gehalten. Die verminderte Impulskontrolle des Jungen ist bekannt, nicht aber der Umstand, der sich daraus herleitet, nämlich dass er in der Aufregung noch in seinem Alter öfters in die Hosen macht. Ich gebe der Mutter des Mädchens, die auf Angriff aus ist, zu bedenken, sie möge bitte erwägen, was es bedeutet, wenn man für ein Kind mit verminderter Impulskontrolle die Verantwortung trägt. Sie jedoch bleibt bei ihrem Entschluss. Im Wissen darüber, dass die Kenntnis heikler Intimitäten, die man unter Verschluss behält, die Verstrickung unter Menschen lösen kann, offenbare ich ihr, das nervöse Kind habe mir im Wintersportlager beinah täglich eine halbe Stunde vor Tagwache eine schwere Windel vorbeigebracht, die ich jeweils in einer Tüte gepackt auf dem Fensterbrett gefrieren liess.

Ein Bettnässer also, dem das Leben eigentlich nur Stress bereitet.

Diese Information lässt die Mutter kurz nachdenken. Mehr noch, sie lockert ihre Deckung, indem sie ihrerseits einräumt, ihre Tochter sei eben in höchstem Masse sensitiv. Das erklärt mir den strengen Körpergeruch, den das Mädchen verströmt, sobald es unter Druck kommt. Diese Eigenart bewirkte, so die Mutter weiter, dass ihre Tochter die ersten Jahre in der Schule still gelitten, zu Hause jedoch sich immer wieder ausfällig benommen hat.

Eine Hochsensible also, der das Leben eigentlich nur Stress bereitet.

Hüben wie drüben im Kern das Gleiche: Eine hochgradige Empfindlichkeit, betreut von einer Sorge, die notfalls zu Allem bereit ist, wenn nur dieses sensible Leben beschützt bleibt.

Warum sollte dies nicht ebenso erklären, was zwischen Brudervölkern in Osteuropa gerade an Hass und Zerstörung abgeht?