Leben verzweigt sich. Es greift Raum. Diese Gangart wird ebenso an der Spaltung ganzer Kulturen deutlich, seien es Stämme, Religionen oder sonstige Strömungen. Verfeindet ziehen sie ihrer Wege. Diese Spaltungen verlaufen selten konfliktfrei. Da geht es um Verrat, um Schuld und Versagen. Verästelung als Gangart des Lebens bietet uns eine Lesart, die uns von dieser Schmach entlastet.

Das Leben bildet Arten aus, wenn es in verschiedene Umwelten vorstösst. Ob dies zufällig geschieht oder mit Absicht, darüber wird bald seit Jahrhunderten gestritten. Naturwissenschaftler befürworten den Zufall, da sie jedes Zugeständnis an die Gegnerschaft vermeiden, die die Natur für intelligent designt begreift und damit scheinbar den Weg ebnet für eine Rückkunft von Gott dem Herrn in die Betriebe der Wissenschaft. Dabei reicht es, wenn man die Absichtlichkeit, statt einem übermächtigen Weltenbauer, dem Leben selbst unterstellt.  Absichtlichkeit wäre ihm dann als solchem eingeschrieben. Warum auch nicht? Dann jedoch heisst es, wir könnten nur von uns Menschen behaupten, wir verfolgten Absichten. Also sei es untersagt, wenn wir sie andernorts auch nur schon in Erwägung zögen. Diese Sachlage erlaubt aber auch weitere Schlussfolgerungen. Denn ebenso gilt: Wenn etwas in einem bestimmten Bereich wenigstens einmal vorkommt, wie eben Absichtlichkeit als Eigenschaft innerhalb des Kosmos durch uns Menschen, dann ist immerhin die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass diese Eigenschaft auch ein weiteres Mal in diesem Bereich auftritt. Kommt eine einzelne Eigenschaft mindestens einmal in einer Menge vor, bestimmt sie die gesamte Menge mit. Zu dieser mathematischen Tatsache kommt der leide Umstand, dass wir unsere Absichtlichkeit nicht durchschauen, so intim sie sich auch ereignen mag. Wie sie entsteht, wie Angst, Sorge oder Lust uns Zielsetzungen fassen lässt, die wir als eigene Sache verfolgen, bleibt selbst nach einer Dekade des Gehirns ungeklärt. Die entsprechenden neuronalen Ereignisse unterscheiden sich kaum von den Hirnaktivitäten anderer Lebensformen, von denen wir überzeugt sind, sie verfolgten keinerlei Absichten. Also ist es unerheblich, welche Lebensform aus welch gearteter Körperlichkeit auch immer Absichten hervorbringt, solange kein weiteres Wissen hier einschlägig wird.

Womöglich deckt sich unsere Absichtlichkeit, nämlich Selbsterhalt und Fortpflanzung, einfach mit den Zielsetzungen des Lebens selbst.

Oder: Was wir wollen, will auch das Leben.

Ausser, dass es den Tod will. Wir aber nicht.

Die Verästelung des Lebens jedenfalls wird bildhaft an Stammbäumen deutlich, die in Lehrbüchern gängig die Geschichte der Artenbildung nachzeichnen. Bei Bäumen als solche, die als Vorlage zu diesen Modellen dienen, verzweigen sich die Äste, damit die Möglichkeit vermehrt wird, die nötigen Stoffe aus der Luft zu filtern. Ebenso Licht. Die Blätter wachsen verästelt in den Raum hinaus, damit sie sich nicht beschatten, nehme ich an. Tiere wiederum zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass sie Ortswechsel vornehmen. Ihre Beweglichkeit, so scheint es, ersetzt die Verästelung. Etwa ein Hund, der ein Feld im Zickzack erkundet. Ein Wolfsrudel auf der Jagd verzweigt sich im Raum. Seine Spuren bilden vom gemeinsamen Startpunkt her wohl ein Geäst ab.

Das klingt alles sehr beschaulich. Wenn es allerdings um uns geht, wenn folglich Gruppierungen sich aufspalten, kommt Bitterkeit auf: Diese Vorgänge stehen notwendig für Scheitern, für Verrat, früher sogar für Teufelswerk. Selbst im gegenseitigen Einvernehmen bleibt eine schale Stimmung zurück. Fehler sind passiert, Unfähigkeit wird beklagt. Ursprüngliche Ideen sind verkümmert, sie wurden zugemüllt. Niemand erkennt einen Fortschritt in solchen Vorgängen. Wie auch? Kommt hingegen jemand zum Schluss, es sei trotz Scheidung oder Spaltung doch besser gekommen, sehen wir eher eine Person, die diese Lage schönredet.

Als Menschen sind wir mit Haut und Haar in diese Trennprozesse verstrickt. Wir hadern, wir verzweifeln, wir verlieren das Gesicht. Der Fehler gerät zum Makel unseres persönlichen Lebens, bei dem wir uns anstrengen, ihn auszumerzen. Philosophische Arbeit bietet Mittel aus dieser Lage heraus, indem sie so weit wie möglich Abstand dazu nimmt. Und das gelingt, indem sie die Sachverhalte glättet. Dadurch geraten Möglichkeiten zum Vergleich in den Blick, die ungewohnt sind. In diesem Gedankenraum, der seltsame Vergleiche möglich macht, ergibt sich früher oder später die Frage, ob es bei diesen Spaltungen auch bloss um Verästelungen des Lebens handelt.

Das Stichwort Gedankenraum passt: Bei der kulturellen Evolution geht es um Gesinnung, Moralen, Überzeugungen, Menschenbilder, Weltbilder. Allesamt Virtualitäten, wie man sagt, da es sich um körperlose Belange handelt, die dennoch Wirkung ausüben. Diese Dinge kommen auf diesem Planeten als Menschen vor, die in bestimmter Weise denken und reden. Wir können also schlussfolgern:

Sofern dies zutrifft, dann gilt auch hier, dass es darum geht, mehr Möglichkeiten zu verwirklichen.

Am besten solche, die sich widersprechen.

Demnach sollten wir uns daran gewöhnen, dass auch diesen Trennungsprozessen, die wir als Niederlagen zu verkraften haben, eine natürliche Aufgabe zukommt. Demnach eine Funktion, die das Leben voranbringt. Der Protestantismus zum Beispiel fächert sich in ein Gewimmel von Bewegungen auf, die auch untereinander verzweigt sind. Dabei steht fest, dass sie sich meiden wie Wurzelwerk. Sie dienen einander höchstens als abschreckendes Beispiel. Die Waldenser finden in der Ablehnung des Fegefeuers und der weltlichen Gerichtsbarkeit zusammen, hielten jedoch an der Beichte fest. Von ihnen war kein Eidschwur zu erwarten. Der Pietismus betonte mehr Gefühl und Frömmigkeit in privater Häuslichkeit. Das wörtliche Bekenntnis, die Erweckung spielte dabei eine wesentliche Rolle. Die Unitarier wiederum können mit der seltsamen Dreieinigkeit Gottes wenig anfangen, ebenso wenig mit der göttlichen Abkunft Jesu. Und die Methodisten halten viel von konkreter Lebensführung, wenig aber von Lehrsätzen und sonstigem theologischem Gerede. Dazu kommen die vielen Verzweigungen, die man Freikirchen nennt. Der Konflikt, der sie teilt, beruht oft in der mehr oder weniger strengen Auslegung der Bibel.

Ein anderes Beispiel: Der Grossseher Mahesh Yogi hat sich als Verbreiter des vedischen Wissens im Westen einen Namen gemacht. In Indien jedoch heisst es, er habe sich als Buchalter seines Meisters Guru Dev unrechtmässig dieses Wissens bemächtigt und sich damit von der wahren Tradition abgespalten. Auch lehre er es eigenwillig und somit falsch. Der Mahesh Yogi wiederum hält Rückschau auf die vielen irrtümlichen Verzweigungen, die die vedische Lehre in den vergangenen drei Jahrtausend hinter sich gebracht hat. Immer wieder wollte man, statt andauernd nutzlos Unsichtbares unter den Dingen zu suchen, sich darauf beschränken, was man wahrnehmen kann. In ihrer so genannten Reinheit erfordert die Lehre viel Verzichtsleistung. So beklagt Mahesh Yogi, es hätte Zeiten gegeben, in denen sich die Völker geweigert hätten zu verzichten. Einmal habe man die Wirkung mit der Ursache verwechselt. Erst müsse man die Versenkung üben, das tugendhafte Benehmen ergebe sich so von allein, während es immer wieder vorkam, dass man erst an den Tugenden arbeitete und dann an den Techniken der Versenkung. Falsche Auslegungen vedischer Texte führten ebenfalls zu Abspaltungen.

Die Verzweigung in kulturellen Strömungen steht also für einen Konflikt oder für Nachlässigkeit. Mehr Gefühl, mehr Verzicht, kein Gefühl, kein Verzicht, mehr Öffentlichkeit, mehr Häuslichkeit, weniger Theorie, mehr Praxis, mehr Theorie, weniger Praxis. Auf die heutige Politik bezogen könnte man ergänzen: Mehr Markt, weniger Staat, mehr Staat, weniger Markt. Leider bleibt an mir der Eindruck haften, dass das Leben alle diese Schwerpunkte benötigt und keinen allein. Mit Bataille könnte man dem Leben einen Willen zur Chance unterstellen. Da winken viele ab, wie oben erläutert. Wille oder Absicht auf das Leben zu übertragen gilt für unseriös, für metaphysisch, da somit etwas behauptet wird, das über sämtliche Belange des Lebens hinausgreift, die uns bekannt sind. Da sind wir aber in bester Gesellschaft, denn ebendies gilt für andere Grössen wie Kraft oder Energie. Sie sind um kein Haar weniger metaphysisch, selbst in Händen von Physikern, die keine Ahnung haben, was das sein soll. Für Newton war es die Offenbarung eines Geheimnisses, dass zwei Planeten einander durch ein Vakuum hindurch anziehen. Wer die Annahme, das Leben benötige alle diese genannten Verhaltensweisen, völlig abwegig findet, gibt damit vor, zu wissen, was es mit dem Leben auf sich hat. Das ist aber nicht der Fall. Dieses Wissen gibt es nicht. Wissenschaftliche Definitionen für Leben fransen allesamt in Unschärfe aus.

Die Lesart von der Verästelung des Lebens als Willen zur Chance ziehe ich aus zwei Gründen vor, statt bittere Niederlagen darin zu sehen:

Sie bezieht sich schlüssig auf die gleiche Welt.

Und: Sie entlastet uns.