Der Jugend geht es schlecht. Da gibt es wohl manche Ursachen. Corona zum Beispiel. Mit dieser handlichen Begründung lässt sich ein Missstand abfedern, der im Grunde einer Gesellschaft den Bankrott erklärt. Denn wer die Jugend verheizt, hat wenig von irgendeiner Zukunft zu erwarten. Sicherlich gibt es Weiteres punkto Ursachen zu bedenken. Zum Beispiel die Praxis der Scheinselbständigkeit, die wir den jungen Menschen zumuten.
Gemäss Statistik zur psychischen Gesundheit nach Alter hat sich die sehr hohe Belastung in der neusten Generation beinah verdreifacht. Neuerdings gehöre ich der Generation X an, die nach den Boomers kommt und schon etwas gestresster ist als diese. Dabei hatte ich mich daran gewöhnt, ein Golfer zu sein. Damit meint man diesen würfeligen Volkswagen, der in den 70gern Furore machte. Meine These von der Scheinselbständigkeit als Mitursache zu dieser misslichen Lage erklärt sich kaum von selbst. Selbständigkeit als Ziel aller Erziehung und Bildung hingegen dürfte auf der Hand liegen.
Als Ziel, wohlgemerkt.
Im Zuge vergangener Schulreformen hat man dieses Anliegen ganz besonders ernst genommen. Zeitgleich wurde die zu lernende Stofffülle seit 1990 gefühlt verdreifacht. Ein wuchtiges Quantum, das mir trotz Jahrzehnten an Berufserfahrung noch heute den Atem nimmt. Diese Zunahme zeigt sich beispielhaft daran, dass der Zahlenraum bereits für Zehnjährige auf eine Million aufgestockt wurde. Die Jahrespläne pro Fach stehen ausgefeilt zur Verfügung. Alles wohlwollend aufbereitet und farbenfroh. So hetzt man von Woche zu Woche. Primarlehrkräfte sind sich einig, dass der Schulbetrieb zubetoniert würde, sollte jemand tatsächlich auf den Gedanken verfallen, diese Stoffpläne buchstabengetreu umzusetzen. Die Qualität wird also dadurch gesichert, dass man möglichst viel in die Jahrespläne verfrachtet. So erweckt es jedenfalls den Eindruck. Dadurch verringert sich freilich die Zeit, die für eine Lerneinheit zur Verfügung steht. Zwölfjährige bekommen eine Woche für Prozentrechnen, nebst vielem Anderen. Einführung, Vertiefung und Anwendung in wenigen Tagen. Kein Wunder begreifen die meisten nicht, was Prozent sein soll und wie man damit verfährt.
Also: Erhöhe die Menge und verkürze die Zeit. So sicherst du Qualität.
Beim Aufruf zu mehr Selbständigkeit sehe ich zwei Interessen im Spiel, die eine sonderbare Partnerschaft eingegangen sind, obwohl sie sich politisch zuwiderlaufen: Den sogenannt linken Kräften unter den Reformern liegt Selbständigkeit am Herzen, da wir alle aus ihrer Sicht genügend Einmischung und Bevormundung erduldet haben. Daher setzen sie auch Transparenz durch, was einen Wust an Bürokratie nach sich zieht. Mit Links hat dieses Anliegen deshalb zu tun, da paternalistische Einmischung willkürlich verfährt und nach Laune oder Sympathie gewisse Heranwachsende bevorzugt oder benachteiligt. Das brüskiert jede Auffassung von Gerechtigkeit. Die Wirtschaft als zweites Interesse hingegen wünscht sich selbständige Teilnehmer am Markt. Aus dem Grund einerseits, dass die Chefs zu entlasten sind, diese sollen sich lieber mit nutzbringenden Risiken beschäftigen. Andererseits lassen sich Menschen, die selbständig sind, zu Flexibilität anhalten und dazu, dass sie aus freien Stücken ihr Humankapital pflegen. So kann man sie guten Gewissens entlassen, sobald es ansteht. Dieses Anliegen ist ernst zu nehmen. Wie jedes Anliegen wird es nicht frei erfunden, sondern dient handfesten Interessen. Und finden Interessen zusammen, ergeben sich kuriose politische Paarungen wie eben diese zwischen Mitte Links und Mitte Rechts.
Interessen jedenfalls haben immer mit der Welt zu tun, in der wir alle leben.
Ob sie uns passen oder nicht.
Nur die Art, wie man sie durchsetzt, nämlich mittels ihrer Veramtung, führt wie so oft dazu, dass ein wichtiges Anliegen vollständig entwertet wird. Vielleicht liegt darin eine Art Sündenfall bürokratischer Weltverbesserung: Die Angelegenheit wird als hochbedeutsam eingestuft. Daher sind Gebote zu ersinnen, die in möglichst allen Bereichen gesellschaftlichen Zusammenlebens greifen sollen. Das geht so lange, bis viele Teilnehmende dabei ein gesundes Mass brüskiert sehen. Sie stören sich an den Massnahmen, machen sich darüber lustig, unterlaufen das Anliegen, wo immer es geht. Das liegt nicht etwa daran, dass sie seine Dringlichkeit verkennen würden. Vielmehr geht es ihnen darum, dass ihre Einschätzung der Sache nicht gefragt ist. Niemand interessiert sich für ihre Meinung. Sie fühlen sich gerade gut genug, die Gebote zu befolgen. Und zwar ebenso in Dichte und Verbreitung ihrer Gültigkeit. Die Veramtung missachtet, was das Steak-Holder-Prinzip schon lange berücksichtigt. Nämlich dass man diejenigen, die von einer Neuerung betroffen sind, von Anfang an ins Boot holt.
Wie aber kann man erwarten, dass man Einschätzung und Bewertung aller einholt, wenn doch auf der Hand liegt, dass Selbständigkeit ein zentrales Anliegen darstellt? Niemand stört sich daran, auf den Strassen rechts fahren zu müssen, obgleich keine Instanz, die das vorschreibt, die persönliche Meinung dazu nachgefragt hat. In der Tat gäbe es dazu auch höchstens zwei Meinungen und ein paar Argumente. Bei Selbständigkeit sieht das wohl anders aus, zumal auffällt, dass die Veramtung diesen hehren Grundsatz gar nicht als Ziel von Bildung und Erziehung festhält.
Vielmehr ist es so, dass Selbständigkeit einfach als natürlich gegeben vorausgesetzt wird. Und zwar unabhängig vom Alter der Heranwachsenden.
Dies kritiklos zu befolgen, sozusagen als willenloser Funktionär, fällt schon sehr schwer. Denn ob Selbständigkeit jederzeit gegeben ist, darüber bestehen diverse Argumente dafür wie dawider. Jedenfalls herrscht hier keine Einigkeit. In der Wissenschaft schon gar nicht. Dafür haben Reformer kein Ohr. Ein Beleg dafür, dass bei ihnen die Sorgfalt gegenüber demokratischer Verpflichtung als untergeordnet zu sehen ist. Die Ansicht, Heranwachsende würden sich sehr wohl selbständig verhalten, wenn man sie denn liesse, sofern für den nötigen Rahmen gesorgt sei, lässt sich also mehrfach bestreiten. Auch spricht reichlich Erfahrung dagegen.
Dennoch kommt diese Meinung als Verordnung daher.
Von meiner Warte aus gesehen verhält sich ein Promill der Heranwachsenden selbständig, wenn man sie denn lässt. Meistens handelt es sich dabei um Hochbegabte, denen Selbständigkeit leichtfällt, da sie von Zustimmung verwöhnt sind. Oder es sind soziale Sonderlinge. Die Norm der Selbständigkeit orientiert sich also an einer Minderheit. Ein seltsame Normalverteilung, wenn die Ausnahme bestimmt, was die Regel sei, sprich was als normal gelten soll. Das riecht weniger nach Ideologie, sicher aber nach einem hemdsärmeligen Idealismus. Der Aufruf nach Selbständigkeit hat zur Folge, dass manche Lehrkräfte ganze Projekte verfügen. Auch geben sie Aufträge aus, mit Material, und ordnen Gruppenarbeiten an. Hier der Auftrag, hier die Daten, hier das Material. Nun seht zu, wie ihr damit zurande kommt. Mir sind Gymnasiasten bekannt, die von dauernder Scheinselbständigkeit nur noch abkotzen. Sie haben die Nase gestrichen voll davon. Die immer gleichen Gruppen, denn selten bis nie schreiben Lehrpersonen ihre Zusammensetzung vor, bringen die immer gleichen Leithammel und Trittbrettfahrer hervor, was völlig natürlich ist. Auch wird dieser Aufruf so verstanden, dass Kinder wie Jugendliche ihre Arbeiten eigenhändig korrigieren und verbessern. Bequem, wenn sich diese lästige Arbeit unter pädagogischem Vorzeichen abwälzen lässt. Und immer sehen sich die Heranwachsenden verführt, falsch zu korrigieren. Damit sie das gleiche Resultat haben wie die anderen, zu denen sie sich gehörig fühlen. Damit sie keine Verbesserungen anfertigen müssen. Die Kiz halten ihre Lehrkräfte für faul, und da dürfte Wahres dran sein. Geschickt schätzen sie ab, was der Auftrag ihnen abverlangt. Dann zücken sie ihr Handy und gönnen sich zeitlich wohlberechnete Augenblicke. Womöglich genau wie ihre Lehrkraft, die im Schulzimmer hinter ihrem Bildschirm verbleibt. Im Vertrauen auf Spezialisierung, die aus systemischer Sicht eigentlich eine Form von Blödheit darstellt, haben bereits Kinder mit mehreren Lehrpersonen zu tun, die sich allesamt aus dem gleichen Methodenkoffer bedienen, damit sie beruflich überleben. Die Praxis der Selbständigkeit wirft Kinder wie Jugendliche ständig auf ihre Unreife zurück. Wird diese Situation ausgenutzt, ob nun mit dem Handy oder unterrichtsfernen Plaudereien, schlägt die Stunde der Operationalisierung. Man schärfe den Auftrag, indem die Messbarkeit bis in die Einzelheiten ausgreift. Etwa so: Nach einer halben Stunde hat jeder drei eigene Aussagen zur Novelle in den Klassenchat gestellt oder sie einfach notiert, womöglich noch mit drei verschiedenen Farben, die dann noch aufzutreiben wären. In dieser Zeit sollen sie überdies je eine konstruktive, jedoch kritische Rückmeldung an die Gruppenmitglieder zu ihrem Beitrag verfassen. Bei dieser Zuspitzung stellt sich allerdings die Frage, was daran noch selbständig sein soll.
Derart geschärfte Lernziele gelten eigenartigerweise als Garant für Selbständigkeit. Lernziele stammen von wirtschaftlichen Projektzielen ab. Die Operationalisierung sorgt dort für Sicherheit, da private Gelder im Spiel sind. Projektziele wiederum sind, wie Vieles in der Wirtschaft, militärischen Ursprungs, wo ein Volksvermögen auf dem Spiel steht sowie die nervöse Konkurrenz zum Feind. Diese akuten Dringlichkeiten sind bei pädagogischen Lernzielen keine in Sicht. Meiner Meinung nach gibt dies ein Beleg für die Vermutung, dass Lernziele zuallererst Lehrpersonen disziplinieren. Ihre operationalisierte Verfasstheit jedenfalls greift tief in den Unterricht ein. Dazu kommt meine Beobachtung über Jahre, dass die meisten Kinder mit Lernzielen nichts anzufangen wissen.
Dabei ist das Anliegen zu würdigen, ein Kind könne mithilfe eines Lernziels selbständig lernen. Das passiert allenfalls in Montessori-Schulen. Alles Nötige wird gesagt, indem das Ergebnisverhalten messbar, eben operationalisiert beschrieben wird. Etwa so: Du kannst von 25 Kantonswappen mindestens zwanzig in einer Minute auf einer Karte richtig zuordnen. Das Kind führt eigenmächtig aus, was verlangt wird. Auf den ersten Blick mag das so erscheinen. Wirkliche Selbständigkeit wäre dann gewährleistet, wenn es auch den Zeitpunkt der Prüfung bestimmte. Sehr oft aber steht dieser Termin bereits im Jahreskalender.
Lernziele verdecken Befehl und Ausführung. Neu dabei ist bloss die eigenartige Untätigkeit der Lehrperson. Sie soll sich ja enthalten. Letztlich auch, damit sie Zeit hat für die Arbeit in diversen Gremien, die seit der Reform wie Unkraut aus dem Boden schiessen. Eine Belastung, die den Lehrermangel nachweislich mitverantwortet. Auch Wochenplan, Projektunterricht und Gruppenarbeit gibt Selbständigkeit bloss vor. Mit dem Unterschied jedoch, dass die Erzieher nun aalglatt daherkommen und sich beinah klinisch und politisch korrekt benehmen, statt dass sie sich über jugendlichen Unsinn empörten und den Kiz damit eine Oberfläche böten, an der sie sich herzhaft abstossen könnten. Auch die meisten Primarschüler erliegen bei Gruppenarbeiten sofort einer Ablenkung. Täglich, wenn nicht stündlich führt man sie in Versuchung.
Die mögliche Rebellion bei heutigen Jugendlichen wird einfach missachtet. Heutige Reformer, von denen gewiss einige den Anspruch erheben, selbst rebellisch gewesen zu sein, rechnen bei Jugendlichen nicht einmal mit Auflehnung, so sehr sind sie überzeugt, sie hätten die Gesellschaft endlich und endgültig für alle verbessert. Die Autoritäten von damals empörten sich über die jugendliche Auflehnung. Unter den Generationen kam es zu Beleidigung und Provokation. Beides steigerte sich hoch, peitschte sich an. Die Daten1968 und 1981 stehen dafür, zumindest was die Schweiz angeht. Reformer schreiben uns Lösungen für Probleme vor, mit denen sie selbst damals zu tun hatten. Nämlich die leidvolle Einmischung von Autoritäten, die ihre Selbständigkeit zügelten. Verständlich also, wenn Selbständigkeit zu ihrem besonderen Anliegen wird. Verständlich auch, dass sie es dann zur amtlichen Vorschrift erheben, nachdem sie altershalber in die Verantwortung nachgerückt sind. Die schweren, zumeist auch innerfamiliären Konflikte bescherten dieser jungen Generation als nachmaligen Reformern zumindest ein Selbstwertgefühl mit verkehrtem Vorzeichen. Man führt ein Leben als Rebell aus voller Brust, bestätigt durch Verachtung, bestenfalls durch Enterbung. Diese Gegnerschaft wirkt wie Nahrung. Und auch wenn sie dich zum Chaoten stempelt, besteht dadurch eine klare Ordnung in deinem Leben.
Aus heutiger Sicht muss man diese Situation als Privileg begreifen. Ein Tatoo belegte eine ganze Familie mit Schande. Heute gilt es als persönlicher Ausdruck. Eine Art Design, mehr nicht. Viele Eltern heute meinen wohl, der Aufruf nach mehr Selbständigkeit stelle ihnen eine Art Persilschein zu eigener Selbstverwirklichung aus. Bestimmt gibt es eine Statistik, die gleichlaufend zur Befindlichkeit Jugendlicher nachzeichnet, wie sehr die Bedeutung der Freizeit auch unter Erwachsenen zunimmt. Ein Zusammenhang dazwischen leuchtet ein, auch wenn er sich so nicht belegen lässt. Zwei Tabellen mit Zahlen zeigen keinerlei Kausalverhältnis an. Es sei denn, man deutet es hinein. Dennoch: Manche Scheidung unter Eltern erfolgt dem Vernehmen nach mit der Begründung, man wolle wieder sein eigenes Leben führen. Mit abenteuerlichen Wochenenden, mit Reisen nach Belieben.
Diese Enthaltsamkeit, sich bei Kindern einzumischen, erscheint als logische, aber auch plumpe Antwort auf den vergangenen Paternalismus. Sie hat sich sogar als Respekt gegenüber Freiheit und Eigenständigkeit Heranwachsender salonfähig gemacht. Das ändert nichts daran, dass diese Haltung bei Kindern als eine Art Ablehnung oder Geringschätzung ankommt, bei Jugendlichen als Gleichgültigkeit. Der Independent-Künstler Mark Oliver Everett, weltbekannt als Eels, thematisiert in seiner Autobiografie genau dieses Drama eines Rebellen ohne Widerspruch, das unter uns noch wenig vertraut ist: Eels schrieb [Ebd. p 54], seine schlimmsten Vergehen, ob nun Autodiebstahl oder Drogenmissbrauch seien bei seinen Eltern auf keinerlei Reaktion gestossen. Sie blieben völlig gleichgültig. Eine Besonderheit ist hierbei zu berücksichtigen, der Umstand nämlich, dass sein Vater ein in sich gekehrter Quantenphysiker war, bei dem der Eindruck bestand, er habe seine Vaterschaft gar nicht mitbekommen. Eels Jugendzeit ist denn auch in den USA der 70er-Jahre anzusiedeln. Der Einwand, diese Situation habe weder mit der heutigen Zeit noch mit europäischen Verhältnissen zu tun, erhebt sich zu Recht. Nun ist es aber so, dass ich in den Zehnerjahren regelmässig Maturanden und Sportlern in kaufmännisch Deutsch aus Eels` Buch vorlas. Seine Gedanken stiessen auf Begeisterung. Man fühlte sich verstanden. Einige kamen nach der Stunde zu mir und notierten sich die Buchnummer.
Die Praxis der Scheinselbständigkeit lebt von einer Ignoranz gegenüber wissenschaftlichen Befunden. Selbständigkeit setzt eine Metakognition voraus, die laut Entwicklungspsychologie bis tief in die Jugend hinein zu wenig entwickelt ist, um als kritikfähig zu gelten. Dazu kommt die Tatsache, dass von der so genannten Pubertät an bis in die frühen Zwanziger das Gehirn eine Art Umbau durchläuft. So spricht die Neurobiologie. Also eine harte Naturwissenschaft, mit Messung und minimaler Deutungsarbeit. Demnach haben Pupertierende, Adoleszenten sowie frühe Erwachsene eine Baustelle im Kopf. Eine ETH-Professorin soll ihre Studenten als ihre Kinder bezeichnet haben. Trotz dieses wissenschaftlichen Befundes stellen wir Ansprüche an sie, als wären sie schon erwachsen.
Indem wir sie der Scheinselbständigkeit ausliefern. Damit lassen wir Idealisten sie in ihrer natürlichen Verfasstheit unentwegt im Stich.
Ein wichtiges Anliegen verkommt. Denn es wird veramtet, also übergeneralisiert, wie es naive Menschen zu tun pflegen.
Die Widersprüchlichkeiten, die sich daraus ergeben, sind in der Tat schwer auszuhalten.
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