Ursachen zum Lehrermangel sind vielfältig. Unter anderem bestehen im heutigen Bildungssystem markante Widersprüche. Sich diesen zu beugen, kann für Lehrkräfte schambehaftet sein. Einer dieser Widersprüche betrifft den Umgang mit Metakognition als unabdingbarer Voraussetzung zu Selbständigkeit.
An Pädagogischen Hochschulen hat man angeblich damit aufgehört, Grundsätzliches zur Debatte zu stellen. Das hat seine natürliche Schlüssigkeit. Jede Einrichtung will baldmöglichst Früchte ihrer Leitlinien abernten, statt diese erneut zu hinterfragen. Das wird von ihr auch erwartet. Daher heisst es oft, dieser Zug sei längst abgefahren, wenn man sich anschickt, Grundsätzliches erneut einer Kritik zu unterziehen. Wer demokratisch gesinnt ist, wer dem Projekt stetiger Verbesserung durch Kritik und Aufklärung anhängt, wird hier wie von selbst stutzig. Kant meint, wir alle hätten den Mund zu halten, wenn wir für die Gesellschaft tätig seien, damit ihre Betriebe ungehindert laufen. Als Privatperson jedoch sind wir seiner Ansicht nach zu Kritik verpflichtet, damit die Gesellschaft vorankommt. Und ganz besonders dann, wenn es um Grundsätze geht.
Und zwar jederzeit.
Das zählt zu so genannten Bürgerpflichten. Keine gesellschaftliche Einrichtung kann einer Kritik von aussen ein Zeitfenster verordnen. Gegenwärtig fordern die Verwaltungen Klarheit darüber ein, ob wir Lehrkräfte die neuen Leitlinien auch umsetzen, die als Lehrplan 21 bekannt geworden sind. Ein Monster von Regulierung, das wohl allein seiner Präsenz wegen dafür sorgt, dass manche ihren Dienst in der Schule quittieren. Und auch dies hat seine Schlüssigkeit, wenn man die Eckwerte, die man verbindlich ausgibt, irgendwann auch überprüft. Dies geschieht nun über die Befragung der Kinder online, nachdem die Lehrperson das Schulzimmer verlassen hat. Ich nehme an, die Ausführenden sind geschult darin, wie man mit Kinderaussagen wissenschaftlich verfährt. Die Aussagen, die zu gewichten sind, lauten in etwa wie folgt: «Die Lehrperson bespricht mit mir regelmässig, wie ich mein Lernen verbessern kann.» Oder: «Die Lehrperson gibt uns Lernziele immer zu Beginn einer neuen Lerneinheit.» Die Eckwerte, die die Verantwortlichen im Auge haben, lauten Kooperatives Lernen, Selbstreflexion, Individualisierung, Lernzielkultur sowie Rückmeldungswesen, also Eigen- und Fremdreflexion. Das meiste davon erfordert Metakognition. Die Kinder lernen nicht nur etwas richtig auszuführen, sondern auch die Art ihres Tuns sowie das Vorgehen anderer nach zweckmässig und verbesserungswürdig zu beleuchten. Wie bekannt und berüchtigt halten Lehrkräfte auch Kinder der ersten Klassen beinah täglich dazu an, ihnen rückzumelden, wie der Unterricht für sie war. Es gibt Schulleitungen, die auf dieser engmaschigen Rückmeldungskultur bestehen und sie entsprechend einfordern.
Durch Zufall nun kam ich in Bern ins Gespräch mit einer Entwicklungspsychologin. Ihr zufolge seien noch nicht einmal Elfjährige zu ernsthafter Metakognition in der Lage. Allenfalls gelänge ihnen dies über den Vergleich mit Gleichalterigen. Etwa so: «S hat eine komische Nase. Habe ich auch eine komische Nase?» Und sie bestätigte, indem sie entschieden nickte, es sei blamabel, wenn man dies für Kritikfähigkeit halte. Der Widerspruch besteht nun darin, dass ich als Lehrkraft den Volksentscheid nach der Verwissenschaftlichung der Bildung selbstverständlich zu befolgen habe, nun aber feststelle, dass die Bildungsverantwortlichen diesen Befund der Entwicklungspsychologie missachten, also punkto Metakognition unwissenschaftliche Vorgaben ausgeben, damit Selbständigkeit durch Kritikfähigkeit gewährleistet wird. Und tatsächlich fiel mir schon auf, dass viele Kinder die Lernziele als etwas Zusätzliches begreifen, das auf der gleichen Ebene dazukommt und ihnen zusätzliche Leistung abverlangt. Diese Irritation löst sich kaum in ein «Aha» auf. Meiner Erfahrung nach bleibt sie hartnäckig bestehen. Was belegt, dass das Denken von übergeordneter Warte aus kaum ausgebildet ist. Auch gibt es Kinder, die mühelos schriftlich teilen, jedoch mit den Lernzielen, die dazu gehören, nichts anzufangen wissen. Versuche ich ihnen, den Ernst solch komischer Aussagen begreiflich zu machen, blicken sie ratlos und auch ängstlich. Als missgönnten wir ihnen, dass sie sich auf einer eingeübten Fertigkeit, die besondere Ansprüche stellt, einfach mal ausruhen.
Kürzlich kam in der Schweiz eine Dokumentation von Luzius Wespe zum Notendruck auf den Markt, die auf erbärmliche Weise diesen Widerspruch blosslegt, ohne dass sie ihn thematisiert. Ihr Hauptaugenmerk liegt auf dem Umgang der Kinder mit ihrem Notendurchschnitt hinsichtlich des Übertritts in die Oberstufe. Hier erfahren wir einen weiteren Widerspruch punkto Notengebung, der uns schockieren sollte, auch wenn die gesamte liberalisierte Arbeitswelt und nicht nur das Bildungswesen diesen Missstand verantwortet: Die Benotung von 4 bis 5 wird in Familien neuerdings als schlecht qualifiziert. Das ist sachlich falsch. Dieser Widerspruch bringt einen Jungen zur Verzweiflung [8:25], der sich selbst als «4 bis 5 Mensch» bezeichnet, obgleich – oder gerade weil – seine Lehrperson mit der Klasse darüber sinniert hat, dass Menschen unmöglich mit ihren Noten gleichzusetzen seien. Der Junge interessiert sich brennend für Schlangen. An die Zoohändlerin richtet er zweckmässige Fragen. Ausserdem weiss er ganz genau, dass das Notenspektrum 4 bis 5, in Deutschland wohl 3 bis 2 offiziell als genügend bis gut validiert ist. Auch in der Schule kommt seiner Leistung wegen keine gute Stimmung auf, so klagt er. Wie seit je wird ihm unterstellt, er könne es schon, wolle aber offensichtlich nicht recht. Was belegt, dass es machen Lehrkräften an pädagogischer Phantasie mangelt. Sein gut begründetes Unverständnis wirft manche Frage auf. Später antwortet er seinerseits mit einem Widerspruch, indem er einen Besen in einen Basketballkorb wirft. Also in einen Korbballkorb. Und grinsend verschwindet er aus dem Blickfeld der Kamera.
Was den Umgang mit Metakognition anbetrifft, so erhalten wir einen seltenen Einblick in Standortgespräche, die notorisch mit der Selbstbeurteilung des Kindes starten. Im Übrigen genau wie Mitarbeitergespräche. Immer zu Beginn steht die Selbstbeurteilung. Fehler zu machen wäre das eine, aber diesen Fehler zu übersehen oder sogar als Erfolg zu verkennen, ergibt einen Deltawert, also einen Abstand zur Einschätzung des Vorgesetzten, der doppelt kritisch wirkt. Das hat zur Folge, dass man bei der Selbstbeurteilung sicherheitshalber auf Tiefstatus geht. Das wurde mir schon offen bestätigt. Ich selbst treffe entsprechend Vorsorge. Schliesslich wird von mir verlangt, meine Karten als Erster auf den Tisch zu legen, während die vorgesetzte Person ihre zunächst verdeckt behält. Von Augenhöhe kann hier keine Rede sein. Aus arbeitsökonomischer Sicht besteht freilich ein lebhaftes Interesse daran, dass dieser Deltawert zutage tritt. Anders gesagt: Man will rasch ermitteln, ob die Belegschaft Schaden anrichtet und in welcher Stärke, aber dafür würde die Fremdbeurteilung ausreichen. Vielleicht gehört es unausgesprochen zum Commitment mit einer Firma oder einer Bildungsstätte, dass die angestellte Person, sofern nötig, sich doch bitte selbst auch um ihre abschlägige Beurteilung kümmert und entsprechend die Konsequenzen zieht, statt aus Angst oder Trägheit ihr Fehlverhalten als Erfolg umzudeuten, nur damit sie die Arbeitsstelle behält. So viel zur authentischen Transparenz bei der Selbstbeurteilung in der heutigen Arbeitswelt. Bei diesen Standortgesprächen haben alle drei Parteien den gleichen Auswertungsbogen ausgefüllt. Die Mutter erkundigt sich vor laufender Kamera bei der Tochter, ob sie ihre Einschätzung, ihre Kleine sei eine gute Lernerin, am richtigen Ort angekreuzt habe. Daraufhin blickt das Mädchen sie hilfesuchend an. Und die Mutter prustet sofort los, sie müsse sicher nicht sie anschauen [13:44]. Damit schärft sie ihr wohl ein, die Sache selbst zu beurteilen, wie es von ihr erwartet wird. Der fragende Blick jedoch spricht Bände. Gleich darauf wechseln wir zu besagtem Jungen mit dem Schlangenthema. Die Lehrkraft fragt ihn, was es brauche, damit er seine Ziele erreiche. Seine Antwort: «Proteziar». Und er drückt herum, da er genau weiss, dass er das, was er sagen zu müssen glaubt, völlig falsch ausspricht. Eigentlich meint er Potenzial. Und er wiedergibt nur, was er täglich von Erwachsenen zu hören bekommt, nämlich er hätte Potential, schöpfe es aber nicht aus. Aber was er genau machen müsse, spitzt die Lehrerin ihre Frage nach, und sie ergänzt, wohl zu den Eltern gewandt, der Junge meine einfach nur das, worüber sie schon immer miteinander gesprochen hätten.
Was anderes, bitte schön, sollte er denn sagen?
Das ist alles nett und herzig, aber es ist ein Nachplappern und keine Selbstbeurteilung. Auch was die Mädchen selbstbewusst in die Kamera über sich sagen, stillt kaum den Verdacht, sie wiedergäben nur, was man ihnen immer wieder einbläut, also wird es ihnen streng genommen in den Mund gelegt. Man stelle sich vor, ein Kind würde die Einschätzung seiner Eltern und Erzieher anlässlich eines Standortgesprächs mit Nachdruck in Zweifel ziehen.
Dieses Nachplappern, vor der Kamera als Fühler der Aussenwelt ohnehin, wirft die Frage auf, wie Kinder damit umgehen, dass ihnen die ausgereifte Fähigkeit zur Metakognition fehlt, sie sich aber täglich, wenn nicht stündlich in Situationen wiederfinden, in denen sie etwas beurteilen sollen. Ich vermute, ihnen dürfte klar sein, dass sie die Erwartung verfehlen, sie sollten eigenständig urteilen. Wie meistern sie das?
Indem sie drauflos imitieren.
Sie ahmen nach, sie plappern nach. Ein völlig natürliches Verhalten. Das wäre kein Problem, aber es kommt bei manchen, so meine Vermutung, zu einem schlechten Gewissen, dass sie etwas nachahmen, was dann als Selbstbeurteilung gilt. Und man behaftet sie darauf, etwa in der Art, sie hätten doch am Standortgespräch diesen oder jenen Vorsatz gefasst. Das schlechte Gewissen unterstelle ich deshalb, da ich einst ein Kind erlebte, das im Deutschunterricht sich ungewohnt gehemmt verhielt. Ein Lehrmittel neueren Typs wies das Kind an, es solle ein Wort aus der Liste aussuchen, das ihm gefalle. Das Mädchen zögerte lange, eines zu wählen. Das fiel in der Klasse auf. Irgendwann nannte es ein Wort, aber leise und betreten. Die weitere Bearbeitung baute auf dem persönlichen Gefallen des Kindes am Wort auf. Beim Auftrag schliesslich, es solle spielerisch Überlegungen anstellen, warum das Wort ihm zusage, lief das Kind rot an.
Und es gestand mir, es wisse nicht, wie ein Wort gefallen könne.
Eine Farbe, ein Essen, eine Rutsche, klar. Aber ein Wort? Das Mädchen hatte mit einem schlechten Gewissen gekämpft. Warum sollte das nicht auch der Fall sein, wenn Kinder eine Selbstbeurteilung von sich geben, bei der sie wissen, dass sie keine ist? Dass sie nur nachreden, was Erwachsene schon immer zwischen Tür und Angel über sie geurteilt, gefeiert oder gestöhnt haben.
Das wäre dann eine Selbstreflexion, die im Geheimen abgeht.
Ein Tanz im Dunkeln.
Und die Einsicht, dass man etwas Falsches sagt, dass man Vertraute in falsche Gewissheit bringt, dafür braucht es keine Metaebene, sondern die einfache Erkenntnis:
Eigentlich lüge ich gerade.
Kommentar verfassen