Hitzesommer. Wohin mit sich? In dieser Hitze? Wohin mit diesem grandiosen Appetit? Nicht nur auf Eis. Auch auf Menschen. Lust, Begehren, Begierde.  Ein schwieriges Verhalten? Ein Stück Natur. Mehr nicht. Diese Einsicht verkommt hier zur Binsenwahrheit. Sie ist also nutzlos, da allzu offensichtlich. Nimm Abstand und blicke neu hin, damit diese simple Einsicht Nutzen abwirft.

Der Sommer soll knallen. Nach der Pandemie sowieso. In der Krypta des Grossmünsters zu Zürich herrscht Schwüle. Man riecht keimenden Schimmel. Draussen erhitzte Körper. Überall. Auf der Gemüsebrücke huscht eine Frau mit einem sämigen Eis durch mein Blickfeld. Gerade klappt sie weit ihren Mund auf, streckt die Zunge heraus und vollzieht ihren fischartig halbbewussten und umso zielsicheren Willen, dass sie sich jetzt diese Köstlichkeit als ein Stück Aussenwelt einverleibt.

Eine Ikone des Oralen.

Lust, Begehren, Begierde. Das Fleisch gilt für schwach. So will es die Tradition. Genau besehen hat seine Schwäche eine natürliche Zweckmässigkeit, die wenig Rücksicht nimmt auf die Empfindlichkeiten menschlichen Zusammenlebens. Keine Kultur lässt dem Sex freie Bahn. Der Verstand, der willige Geist soll es richten. Blicke ich mich jedoch um, in der Hitze auf den Strassen, die alsbald ein Luststrom von Ravern fluten wird, drängt sich mir eine Umwertung auf:

Das Fleisch ist willig, nur der Geist ist schwach.

Theologisch ist das völlig verdreht, aber es leuchtet mir derart ein, dass ich ein Schmunzeln kaum verkneife. Die Nachfrage nach sexuellen Reizen führt, wie bekannt, zu den häufigsten Klick-Zahlen im Internet, wobei Orte, an denen eine rigide Moral herrscht, diese Statistik anführen. Ein klarer Ausgleich, wie er sich überhaupt im Leben zeigt, wohin man blickt. Der Feminismus singt ein eignes Lied vom willigen Fleisch. Es lässt sich leicht vor Augen führen, was man in Frauenhäusern etwa über die männliche Begierde erfährt. Die Ehe war denn früher auch ein Kuhhandel: Schutz und Unterhalt gegen Sex. Wo das gesunde Mass dabei liegt, in welchem Intervall dieser Dienst erfolgen soll, blieb unbestimmt. Man kann sich ausrechnen, was es bedeutet, wenn der Gatte mehrmals die Woche angesäuselt bis betrunken sein Recht zur Besteigung seiner Angetrauten einfordert. In freier Wildbahn wäre die männliche Sexualität zweckmässig angepasst, indem sie sich rasch und rüde vollzieht. So kommt sie dem Anpirschen von Fressfeinden zuvor. Diese Rohheit ist heutigen Ansprüchen nicht mehr angepasst.

Auch in der feinsten Form sexueller Ordnung, in der Ehe nämlich, liegt also Notdurft verborgen. Und die Notdurft, die dazu führt, dass im Netz Pornos überwiegen, dürfte sich von selbst erklären. Diese Einsichten bewirken jedoch eine Misanthropie, wie sie unter uns gängig ist, immerhin lässt sich leichterhand mit nur ein paar Worten gleichsam aus dem Sitzen heraus über die gesamte Menschheit herziehen.

Stattdessen sollte man erwägen, dass das Leben überall den Selbsterhalt der Fortpflanzung unterordnet.

Die Natur entschuldigt alles oder nichts. Aber es scheint sich hier gar nicht um Schuld zu drehen. Beispiele dafür, dass die Natur den Selbsterhalt unterordnet, sind haufenweise greifbar: Leuchtkäfer senden ihr Licht aus, um sich zu begatten. Dabei fressen sie nichts mehr, verbrauchen all ihre Energie zum Leuchten. Man könnte sagen, sie leuchteten sich dafür zu Tode. Ein Tintenfisch stirbt, nachdem er gelaicht hat. Manche Tierart sucht Bereiche zur Brut auf, die jenseits ihrer angestammten Sphäre liegen. Sie vollziehen eine beachtliche Transzendenz, die wir Menschen tunlichst vermeiden. Eine bestimmte Pinguinart etwa bevorzugt zur Brut seit Jahrmillionen eine Vulkaninsel, auf der keine Fressfeinde vorkommen. In der Brandung, die sie dazu überwinden, kommen viele am Felsen zu Tode. Meeresschildkröten kämpfen sich mühsam an Land, um Eier abzulegen. Ein Drusenkopf steigt in einen Vulkankrater hinunter, um die Eier in der erhitzten Erde abzulegen. Dabei kommen viele seiner Art im Steinhagel um, doch die Vorteile des Nistens im Krater überwiegen.

Der Brutpflegetrieb äusserst sich deshalb so stark, da er die Richtung des natürlichen Selbsterhalts auf das Wohl des Kindes wendet. Eine Elefantenmutter bricht den Trieb zum Selbsterhalt, wenn ihr Kind im Sandsturm herumtappt. Sie bleibt stehen, sie kehrt zurück, schiebt, sie murrt. Ein Paradiesvogel begibt sich in völlige Gefahr, wenn er seine Balz einübt und dann zum Besten gibt. Das Tier verausgabt sich in einem Verschleiss, der beim blossen Selbsterhalt kaum zu verzeichnen ist.

Auch wenn das Leben uns die Natürlichkeit unseres Verhaltens nahelegt, weigern sich manche, dies als Verständnis anzunehmen. Ihre Verletztheit reicht derart tief, dass sie jede Abschwächung als Entlastung der Täterschaft zurückweisen.

Ihnen gilt ein Respekt, der sie sichtbar macht.