Fortschritt und Wohlstand laufen auf mehr Schmerzfreiheit hinaus. Das bedeutet aber auch mehr Wehleidigkeit.

Wir sollen schmerzfrei sterben können, das steht fest. Dafür steht die Palliativmedizin. Ein Geistlicher im Endstadium Blutkrebs meinte zu mir, er sei über alle Massen glücklich, dass es eine Industrie für Medikamente gebe, so sehr sie in Misskredit steht. Ihm blieben Schmerzen erspart, die auszuhalten übermenschlich wäre. Schmerzfreies Sterben erklärt sich von selbst. Wie weit aber sollen wir schmerzfrei leben? Komische Frage, möchte man meinen. So schmerzfrei wie möglich. Aber es gibt zunehmend Bibelfeste unter uns, die Morgenluft aus den Staaten schnuppern und nebst der Abtreibung auch die Praxis des Kaiserschnitts in Zweifel ziehen. Sie sind der Ansicht, dass nur natürliches Gebären aus Frauen richtige Mütter macht. Dann sollten sie zwingend jedes Schmerzmittel ablehnen, in der Überzeugung, man werde nur dann richtig Mensch, wenn man Schmerzen aushält, wie etwa ein Harnleiterstein, der in seinem Engnis feststeckt.

Im schulischen Sportunterricht kommen für diverse Spiele neuerdings Softbälle zum Einsatz. Also Schaumstoffe im Plastikmantel. Lederbälle ab Typ Volley bleiben dem Spiel vorbehalten, für das sie gefertigt sind. Zu meiner Zeit trafen wir uns beim Sitzball mit solchen Lederbällen ab. Bei scharfen Schüssen flossen da schon einmal die Tränen, doch niemand beklagte sich darüber. Erst kürzlich gab ich einen solchen Lederball ins Spiel, da es an Softbällen fehlte. Und prompt beschwerten sie sich. Der Ball «fitze» zu stark. Da fällt auf einmal auf, dass die Kinder in den Pausen mundgerechte Stücke aus ihren Essboxen fischen. Von Vater oder Mutter besorgt zurechtgeschnitten. Ein Wunder, dass die Kleinen noch nicht mit Knieschonern und Helm auch zu Fuss ausgerüstet wären, womöglich mit einer Drohne über dem Kopf, die das Kind vor Schlimmerem bewahrt. Da muss man Verständnis haben. Mag sein, dass Eltern empfindlicher, ängstlicher geworden sind. Das gilt für die gesamte Gesellschaft. Seit einigen Jahren fährt man sich auch bei Nichtigkeiten gerne juristisch an den Karren. Da gilt es, Vorsorge zu treffen. Und der nach wie vor globalisierte Arbeitsmarkt sorgt für erbärmliche Schutzlosigkeit. Also kommt man dem Kind entgegen, soweit es eben möglich ist, fährt es überall hin, damit kein Unglück geschieht. Mit dem Ergebnis, dass das Kind beim geringsten Spaziergang überhaupt zu keiner Ausdauer mehr befähigt ist.

Fortschritt sorgt für Schmerzfreiheit dank Entlastung. Man darf auch mal bewundern, was die Hochleistungsversorgungsgesellschaft zustande gebracht hat, nachdem es bis vor Kurzem in Europa noch Hungerkrawalle gab und die Menschen während Wochen ihrem elenden Sterben entgegenschrien. Auch wenn diese Leistung auf Kosten von Umwelt und Gesundheit geht. Immerhin gibt es nicht nur Softbälle in Schulen, auf höchsten Ebenen des Politbetriebes bekennt man sich zur Soft Governance, dem sanften Regieren, das sich dadurch kennzeichnen soll, dass es weniger Hierarchie erfordert, weniger Autorität und weniger Einmischung.

Allerdings bleibt das Ziel das gleiche: Gesetze verabschieden und durchsetzen. Ohne Zwang und Befehl. Wie soll das gehen?

Im Gleichzug mit dieser Leidensminderung sind wir dank der Digitalisierung in die Lage gebracht, dass wir unser Leben mit einer Lustbefriedigung würzen, die sich tausendfach pro Tag auf ein, zwei Klicks einstellt. Ein bisschen einkaufen im Netz, oder einfach nur in Angeboten stöbern, für ein zwei Minuten, Gruppengespräche durchkämmen, Antwort geben, Anstoss geben, auf Reaktionen hoffen und sie geniessen, ein Filmchen für Zwischendurch, ein bisschen Sex zum Naschen, hier und da ein Like, der uns freut, da er beweist, dass es uns gibt. Manche Jugendliche, die ich beschulte, passen ihr Leben so an, dass sie nur Teilzeitarbeit leisten. Freizeit steht ihnen über allem. Wenig Fortpflanzung, wohin man blickt. Sollte tatsächlich der Strom ausfallen, wird man mit Menschen zu tun bekommen, von deren Entzugsverhalten wir wohl keinen Begriff haben. Ihr Gehirn dürfte sich derart an Kleinstbefriedigungen im Sekundentakt gewöhnt haben, dass ihr kindisches Benehmen überhandnimmt, das sie jetzt schon an den Tag legen, wenn eine Applikation aussetzt oder das Internet auch nur ein bisschen stockt. Dann tappen sie auf den Geräten herum, die eigens dafür entworfen sind, dass man sie lustvoll anfasst, eine hauchdünne Erscheinung, mit matt glänzenden Oberflächen und abgerundeten Ecken.

Leute in meinem Alter sehen in dieser Verwöhnung sowieso einen weltweiten Zerfall am Werk, der ihnen zu Herzen geht. Meistens aber suhlen sie sich in der Verachtung, die sie berechtigt, wie sie finden, über andere ausgiessen dürfen.

Also: Fortschritt bringt Verwöhnung.

Und was fängt man mit Verwöhnten an? Schon höre ich die Hemdsärmeligen unter uns eine allgemeine Härte zurückwünschen. Aus ihrer Sicht führt Meinungsfreiheit zu einem Endlosgeplapper, das gestopft gehört. Vielleicht sollte ich wie sie darum besorgt sein, dass die Arbeitskraft an meinem Pflegebett auch mal auf die Zähne beisst, statt sich andauernd von mir erholen zu müssen. Dieser Argwohn von der Verwöhnung als Niedergang liegt mir nicht wirklich, er hört sich in meinen Ohren so altbacken an, dass wir eigentlich schon seit Jahrhunderten hätten allesamt vor die Hunde gehen müssen.

Eher fällt mir auf, dass man diese Verwöhnten von heute und morgen nur bedingt für einen Weltkrieg gewinnt. Keine Ahnung, ob sich heute ganze Generationen mit Schwur und Ehre zu den Waffen rufen lassen, ob sie sich über Jahre unterordnen und ihr wattiges Leben entbehren.

Verwöhnte oder Leidensunfähige sind also friedfertige Menschen. Was einer Menschheit seit Langem missglückt, nämlich dass es keinen Krieg mehr gibt, könnte einer Palliativgesellschaft so gelingen.