Einmal mehr gerät die Geisteswissenschaft unter Beschuss. Vielleicht sollte man dafür Verständnis aufbringen, schliesslich hat sie das Erfahrungswissen während Jahrhunderten geringeschätzt und klein gehalten. Das ändert nichts daran, dass sie heute gegenüber der Naturwissenschaft ungeahnte Vorzüge zu bieten hat.

Alles kippt früher oder später in sein Gegenteil. So will es das Leben. Die Natur kennt tausend Beispiele dafür, die Geschichte kaum weniger: Die Restauration befestigte die Einflusssphäre des Adels, die Regenration lockerte sie wieder. Nach Jahrzehnten der Globalisierung treten wir angeblich in ein Zeitalter der Deglobalisierung ein. Auch Erfahrung galt lange Zeit im Vergleich zu den Leistungen des Geistes für zufällig. Also für launisch und daher für minderwertig. Die Japaner ekelten sich erst vor dem Klötzchendenken der Naturwissenschaft. Wie das Leben so spielt, sollte sich auch diese Vorherrschaft in ihr Gegenteil verkehren. Unter anderem so: In der Annahme, das Ende der Welt stehe bevor, suchten die Menschen um 1000 nach Zeichen Gottes am Himmel. Dieser Blick löste sich von seiner Bestimmung, er verselbständigte sich zur Naturwissenschaft. Auf der Suche nach göttlichen Menetekeln entdeckte man die Dinge selbst in ihrem Sosein und in ihren Zusammenhängen, die Grundlage von Erfahrungswissen. Wir meinen, dieser Wechsel von reinem Geist zu Erfahrung bedeute eine Verbesserung durch Fortschritt. Sehr oft jedoch, und so auch hier, sind es bloss Moden, die sich ablösen. Die merkwürdige Debatte, welche der beiden Arten von Wissenschaft besser sei, missachtet, dass es Sachverhalte gibt, die nur mit Hilfe der einen oder der anderen zu klären sind: Die Administration Trump soll kaum Gelder für Fachbereiche der Geisteswissenschaft gesprochen haben. Ob aber etwa Noam Chomskys Vorwurf, die Vereinigten Staaten betrieben Staatsterrorismus, zutrifft oder nicht, lässt sich nur geisteswissenschaftlich entkräften oder bestätigen. Die meisten soziologischen Probleme passen einfach unter kein Mikroskop. Umgekehrt kommt man mit Methoden blossen Verstehens nirgendwohin, wenn man herausfinden möchte, ob ein bestimmter Stoff Schwefel enthält und wenn ja wieviel. Dazu ist diese Substanz nach einer bestimmten Rezeptur zu behandeln. Für das gleiche Ergebnis lässt sie sich weder ausdeuten noch eingehend beschreiben.

Seit der Liberalisierung des Wissenschaftsbetriebs jedoch zeichnet sich ein Vorzug ab, der bei der Geisteswissenschaft bisher unentdeckt geblieben ist. Der Wettbewerb um Gelder und Ansehen kann, je nach Höhe des Einsatzes, notfalls zu Mauscheleien führen, zu denen die Geisteswissenschaft gar nicht in der Lage ist:

Sie kann nämlich keine Daten schönen.

Oder gar fälschen.

In der Geisteswissenschaft dreht sich Vieles um Argumente. Sie stellt Prämissen auf, zieht daraus Schlussfolgerungen. Dabei ist es ausgeschlossen, dass man eine Prämisse unterschlägt. Zwar lässt sie sich sprachlich so weichspülen oder zuspitzen, dass eine gewünschte Schlussfolgerung erst möglich wird. Allerdings geschieht das öffentlich. Daher schleifen Geisteswissenschaftler unentwegt an ihrer Begrifflichkeit herum. Ganze Tagungen setzen sie dafür ein. Transparenz, um diesen inflationären Ausdruck zu gebrauchen, bezeichnet das Wesen der Geisteswissenschaft.

Beide Arten von Wissenschaft erfüllen je ihren Zweck für die Gesellschaft. Es besteht also kein Grund, dass man der einen grundsätzlich den Vorzug gibt. Und wenn der Naturwissenschaftler klarstellt, jede Messung bilde Sachverhalte der Umwelt ab, und der Kulturalist einwendet, die Daten eines Messgerätes gäben zunächst über sein Funktionieren Aufschluss, wir brächten immer vorgefasste Meinungen mit, die mit dem, was wir messen, nichts zu tun haben, dann reden beide immerhin von der genau gleichen Welt.

Ihre Zusammenarbeit, nicht ihre Konkurrenz wäre demnach wünschenswert.