Wer ein halbes Leben lang gegen eine Tür anrennt, die partout verschlossen bleibt, versinkt natürlicherweise in Selbstzweifel. Die Moderne rechnet uns eine persönliche Souveränität zu, die nur Erfolg oder Scheitern in Aussicht stellt. Im Falle dauernden Misserfolgs
sollte man sich klar machen, dass da eine zähe Eigenart, vielleicht sogar eine Art Naturgesetz im Spiel ist. Denn das wissenschaftliche Weltbild der Moderne kennt Naturgesetze, jedoch keine Freiheit in diesem Sinne.

Solche Geschichten gibt es viele: Ein Mann möchte sein Leben verändern. Allerdings kann er vor sich selbst nicht sagen, ob er sich dazu genötigt fühlt, oder ob er es tatsächlich möchte. Daraufhin befragt würde er sagen, dieses Gefühl verändere sich laufend. Nun jätet er einen alten Garten frei und schreibt sich bei einem Fernkurs ein. Zwei Dinge auf einmal. Der Rat, er solle erst einmal nur etwas an seinem Leben ändern, schlägt er in den Wind, so viel Zuversicht verspürt er. Also kauft er Setzlinge, Feldsalat, Karotten, Basilikum, Kamille. Die Aufgaben für den Fernkurs erledigt er nach einem festgelegten Zeitplan. Der Start glückt. Nach einer gewissen Zeit gerät der Mann in Panik, wenn etwas misslingt, sei es eine falsch gelöste Hausaufgabe, oder ein Keimling, der vorzeitig welkt. Nach einem halben Jahr schliesslich ist der Garten erneut überwuchert, und die Hefte stapeln sich auf dem Küchentisch. Der Mann ist gescheitert, darüber dürften keine Zweifel bestehen. Dieser Eindruck drängt sich auf. Fragen, die tiefer gehen, erübrigen sich, unter Umständen wären sie zu kostspielig. Einmal mehr hat er versagt. Zwar hatte er Gründe, die Projekte anzugehen. Somit wäre es nur nahe liegend anzunehmen, dass er wiederum für ihren Abbruch Gründe fand. Man könnte auch sagen, ihm seien neue Gründe zugestossen. So gesehen änderte der Abbruch nichts an seiner Souveränität.

Aber so sehen wir das nicht. Weder die Gesellschaft noch er selbst. Es ist ein Scheitern. Punktum.

Einmal mehr.

Der Mann schweigt sich darüber hinweg, denn er weiss, dass jede Rechtfertigung, die er vorbringt, als Schönfärberei abgebucht wird. Aus diesem Grund behalten gewisse Personen grundsätzlich ihre Vorhaben für sich, damit sie ihr mögliches Scheitern später nicht zu rechtfertigen brauchen. Damit treffen sie eine Art Vorsorge aus intim ökonomischer Sicht. Ich kenne mindestens zwei Frauen ohne Berufsabschluss. Eigentlich undenkbar aus Sicht einer Gesellschaft mit Arbeitsteilung und Gleichberechtigung. Sämtliche Vorzüge dieses modernen Gemeinwesens stehen uns allen frei zur Verfügung, wir brauchen nur an einem ihrer Rädchen zu drehen. Wer aber diese Leistung scheinbar verweigert, erntet die volle Ablehnung. Sein ganzes Leben. Die eine Frau bezieht Invalidenrente. Ihre wiederholten Misserfolge, ins Erwerbsleben einzutreten, bewertet nicht nur die Verwandtschaft, sondern sogar die Stammfamilie als erfolgreiche Drückebergerei, als verstockte Faulheit vor dem Herrn.

Ein übergriffiges Urteil, wenn man bedenkt, dass selbst Nächststehende keine Gewissheit darüber haben, ob sie über sämtliche Informationen verfügen, die für ein ausgewogenes Urteil über diese Person in ihrer angeblichen Verstocktheit einschlägig wären. Denn diese Frauen stehen Ängste aus, die sie nach aussen verbergen, da sie schwer klarzumachen sind. Meine Vermutung: Als Person ohne Berufsabschluss fühlen sie sich in unserer Versorgungsgesellschaft unfertig und vor allem:

Ungeschützt.

Ich persönlich kenne niemanden, der mir Gründe zur Annahme gibt, die Person würde über Jahre hinweg sich wider besseres Gewissen nur aus Faulheit den Ansprüchen einer Versorgungsgesellschaft verweigern. Da lassen sich andere Gründe ins Spiel bringen, die sozial verträglicher sind, ohne dass wir die Bestätigung dafür bekämen, ob sie zutreffen: Ängste, Verletzungen, gut begründete Ressentiments. Warum fällt es uns schwer, einfach anzunehmen, die Person habe eine ganze Reihe von Misserfolgen zu verkraften, die jeden Menschen irgendwann natürlicherweise entmutigt und verbittert? Dabei kann es durchaus der Fall sein, dass andere Gründe zum Misserfolg führten als nur persönliches Unvermögen: Mein Cousin schaffte knapp eine Anlehre als Autolackierer, im Eishockey sass er eigentlich nur auf der Ersatzbank, seine Intimbeziehungen klappten nicht. Anfangs der Neunzigerjahre trat er auf einmal im Anzug auf und verteilte uns Visitenkarten als Versicherungsvertreter im Aussendienst. Dann kam die Rezession. Ein Schlag von aussen, mit weltweiter Wirkung. Und mein Cousin wurde als jüngster Mitarbeiter sofort entlassen. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Er nahm einen Schluck Wasser und schoss sich in den Mund. In seinem Abschiedsbrief war diese Reihe an Tiefschlägen aufgelistet. Der wohlgemeinte Rat, einfach positiv zu bleiben, verkommt ihr gegenüber zu schlichtem Hohn.

Solchen Personen wäre eine Umdeutung anzuempfehlen, nämlich dass sie ihr Selbst als Naturgesetz begreifen, das als Gesetz unveränderbar ist oder seine Zeit braucht und seine ganz bestimmten Bedingungen, um sich zu verändern, sich anzupassen. Aus evolutionärer Sicht leuchtet das spielend ein. Dabei gilt der Glaubenssatz, dass jedes Selbst natürlicherweise zweckmässig ist.

Denn das Leben hat es so hervorgebracht.

Nicht wir.

Zudem lohnt sich ein Blick auf Indien, ohne dass man sich gleich einen Sanskritnamen zulegt und Räucherstäbchen entzündet. Denn für Inder gibt es eine Schönheit des Selbst. Diese Schönheit allerdings kennt keine ästhetischen Massstäbe. Sie meint die Verwandtschaft des Selbst mit dem Kosmos.

Folglich stimmt auch das persönliche Selbst eines Bettlers oder eines Krüppels mit dem kosmischen Selbst, mit dem Weltganzen überein.

Also auch das Selbst einer Person, die in ihrem Leben wenig bis keinen Erfolg verbucht. Denn das Leben vollzieht sich nicht nur in einem Erfolg.

Sondern auch im Erringen darum.