In der Regel macht Philosophie einen Bogen um Themen wie Perversion. Der Grund: Sie sind ihr zu sachbezogen. Zu wenig allgemein. Nicht so der New Yorker Thomas Nagel. Wie zu erwarten verhandelt Nagel als Philosoph keine bestimmten Praktiken, um Perversion zu erläutern. Seine Überlegungen führen hingegen zu der Einsicht, dass die durchschnittliche Sexualität, wie sie in nordatlantischen Breitengraden gelebt wird, selbst pervers ist.
Sexuelle Perversion hat nach Nagel weder mit dem Geschlecht zu tun noch mit irgendwelchen technischen Spielarten. Sexualität versteht sich als eine Ökonomie der Erregung. Das klingt wenig romantisch, verhilft aber zu Klarheit in dieser Sache. Gefragt wird danach, wie wir die Befriedigung sexuellen Begehrens organisieren. Wie komme ich zu einer Erregung, die zur Abfuhr meiner Begierde führt? Oder: Was sind die Quellen meiner Erregung? Da gäbe es zig Möglichkeiten anzuführen. Im perversen Fall nach Nagel lasse ich mich von einem Körperteil erregen, oder von einem Bild davon. Das heisst, ich bleibe mit meiner Lust allein. Pervers ist also nicht, wer Schläge geniesst oder Schuhe ableckt, sondern wer seine Lust auslebt, ohne dass er sich auf die Eigenart eines Spielpartners einlässt. Eine ideale oder gesunde Form sexueller Ökonomie sieht Nagel dann gegeben, wenn ich die Erregung eines Partners als Quelle meiner Erregung nutze. Und zwar am besten dann, wenn seine Erregung sich an meiner aufreizt und umgekehrt [p 65-81]. Nagel betont, Sexualität beinhalte das Verlangen, dass der Partner dadurch erregt wird, dass er mein Verlangen nach seiner Erregung bemerkt [p 74]. Demnach bedeutet pervers aus philosophischer Sicht, dass eine Lebensform aus Unkenntnis oder Dumpfheit ihre natürlichen Fähigkeiten und Gaben ungenutzt lässt.
Die Lebensform bleibt dauerhaft hinter ihren natürlichen Möglichkeiten zurück. Demnach kann sie nur uns Menschen betreffen.
Tierische Sexualität ist also keineswegs pervers, auch wenn sie keine Rücksicht auf die besondere Lustökonomie eines Partners nimmt. Sie nutzt sie auch nicht als Quelle der Begierde, sondern folgt ihr aus Instinkt zur rechten Zeit. Thomas Nagel unternimmt keinen Vergleich zum Tierreich. Er kommt zu seinem Ergebnis, indem er die traditionelle Hermeneutik auf die Sexualität anwendet, also die Lehre menschlichen Verstehens, die sogar im systemischen Denken heimisch geworden ist. Dort geht es um Kommunikation, was bedeutet, dass Menschen eine Einheit bilden, indem sie sich verstehen. Kommunikation geschieht dann, wenn ich verstehe, dass ich verstanden werde. Diese Einheit zu erreichen wäre bei Sexualität wesentlich wünschenswert, sofern sie menschlich sein soll.
Auf die Sexualität übersetzt heisst das: Ich werde erregt, wenn ich wahrnehme, dass der Partner meine Erregung wahrnimmt und daraus seine eigene Erregung schöpft, sodass meine Erregung sich steigert, sobald ich diese Zunahme bei meinem Partner wahrnehme.
In diesem Fall deckt sich Sexualität sogar mit Liebe. Durchschnittliche Sexualität ist dann pervers, wenn das bewusste Wechselspiel gegenseitiger Wahrnahme und Erregung gar nicht in Gang kommt. So verkommt Sex zu einer Form erweiterter Selbstbefriedigung. Erweitert in dem Sinne, dass ein Partner rein technisch zur Selbstbefriedigung benötigt wird.
Anders gesagt: Perverse Sexualität ist unkultiviert. Denn mit Kultiviertheit meinen wir immer, dass wir auf fremde Eigenart Rücksicht nehmen.
Eben nicht nur bei Tischgesprächen, sondern auch beim Sex.
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