Wer den Anspruch erhebt, aufgeklärt zu sein, dem schwebt ein faires Urteil vor in  allen Belangen. Also kann ich nicht Ukraine-Versteher sein oder Putin-Versteher. Beides muss ich sein. Und nur beides.

Diese Umsicht ist niemandem abzuverlangen, dem eine Hölle aufgezwungen wird, wie gerade Ukrainern oder auch russischen Soldaten. Diese schwierige Umsicht, die ich anspreche, ist von Leuten wie mir zu erwarten, die sich zum Westen bekennen, jedoch den Zufall dankbar geniessen, dass sie unbeleckt von solchen Höllen leben. Hat der Westen Russland vorsätzlich in die Enge getrieben? Nach dem Muster der Ehefrau, die ihren grobschlächtigen Gatten dazu bringt, dass er sie verprügelt, indem sie empfindliche Knöpfe drückt, damit endlich Gesetz und Ordnung einkehren und der Sache ein Ende bereiten. Wie wäre das zu entscheiden? Dazu reicht ein Beispiel: Die Ukrainer suchen Schutz in der NATO, so unsere Beschreibung. Aus Sicht Russlands erliegt dieses Land westlichen Überredungskünsten. Immerhin hat der CIA den Maidan finanziert. Wir sehen souveräne Bürger, die sich für den Westen entscheiden. Russland sieht Marionetten, die den Westen näher heranrücken lassen. Was, bitte schön, trifft zu, wenn nicht beides? Die NATO wurde zu dem Zweck gegründet, die Territorien ihrer Mitglieder zu schützen. Dabei ging es klarerweise um den möglichen Kampf gegen den Ostblock. Das Gegenstück Warschauer Pakt löste sich im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion auf, während die NATO  sozusagen als Relikt zurückblieb. Nach neuster Forschung liegt die Ursache dieser Auflösung weder beim Kommunismus, noch bei amerikanischen Schachzügen, sondern bei der menschlichen Schwäche, ein Staatsbudget wider besseres Wissen beizubehalten, statt herabzustufen, das seit der Erdölkrise 1973 für fette Einträge sorgte, im Zuge der 80er jedoch bei fallendem Ölpreis ins Stottern geriet. Niemand wollte diesen Schwarzen Peter in die Finger nehmen. Auch der Kapitalismus ist davor nicht gefeit. Vielen Unternehmen geschah derselbe peinliche Fehler, als China sein Einkaufsfreudigkeit dämpfte. Niemand legte seiner Firma die Rückanpassung des Budgets ans Herz. Die Folgen trugen 2008 zur Finanzkrise bei. Aber statt sich gleichfalls aufzulösen, wie es einer gewissen Sachlogik entsprochen hätte, gab die NATO sich neue Ziele. Demnach sollte sie weiterhin als Bindeglied zwischen USA und Europa wirken, als Werkzeug für das Krisenmanagement dienlich sein, die Vereinten Nationen bei friedenserhaltenden Massnahmen unterstützen sowie bei Rüstungskontrolle für Verifikation und Durchsetzung zum Einsatz kommen. Im Gegensatz zum Kampf gegen den Ostblock sind das weiche Ziele, bei denen fraglich scheint, ob ein atomar gerüstetes Militärbündnis sich tatsächlich dafür eignet. Wir im Westen finden diese neue Zielsetzungen durchwegs einleuchtend. Die Aufklärung, die wir hochhalten, erwartet jedoch von uns, dass wir uns denselben Sachverhalt aus Sicht anderer vor Augen führen und entsprechend gewichten. Zum Beispiel aus Sicht Russlands. Aus Sicht Putins.

So gesehen drängt sich die Annahme auf, dass ein früherer Gegner seine unverdiente Vormachtstellung ausbauen will. Aus Misstrauen, wie zu ergänzen wäre. Putins Versuche, auf diplomatischem Weg eine gemeinsame Sicherheitsordnung aufzubauen, fanden in Europa keine Zustimmung. Der Westen hält hingegen viel von Gorbatschov. Auf Putin hin befragt hebt der ehemalige Sowjet-Präsident hervor, wir Westler sollten die Sowjets, sprich die Russen aufhören zu dämonisieren. Dabei zitiert er nicht sich selbst.

Sondern Kennedy [2:54].

Diese Dämonisierung ist gewiss kein Zufall: Die traditionelle Brutalität der Russen gegenüber dem eigenen Volk wird abermals in der Ukraine im Umgang mit eigenen Soldaten unter Beweis gestellt. Vor Jahrzehnten liess Stalin Tausende aushungern, er bekämpfte das Feuer des Krieges, indem er Menschenmassen mitten hineinbefahl, bis sie es erstickten. Solche Staaten oder Personen muss man nur leicht anreizen, wenn man sie loshaben möchte. Am besten stückweise über einen längeren Zeitraum hinweg, sodass sie zum Angriff übergehen. Es gibt Stimmen, die den Krieg in der Ukraine so veranlasst sehen. Fest steht, ab dem Übergriff ist eine differenzierte Auseinandersetzung beinah ausgeschlossen.

Wir wollen nichts Russisches mehr, dieses nervöse, immer wieder aufgescheuchte Gemüt, das vor Ikonen schmachtet und nach harter Hand ruft, damit sie sie beschützt und anleitet. Empfindlichkeit und Brutalität sind eigenartige Geschwister, aber sie passen zusammen, nicht nur im Russischen. Dieser Ruf nach Härte, diese bewusste Unmündigkeit will der Westen nicht mehr. Genauso wollen wir keine Eritreer in unseren Reihen oder sonstige Afrikaner. Ukrainer, die eindeutig europäischen Typs sind, erhalten auf Anhieb alle Rechte. Die westliche Lebensart ist für mich unverzichtbar, aber sie spottet eigenen Grundsätzen. Wir sind Rassisten, wir sind Propagandisten. Der Westen verhält sich respektlos. Jedenfalls wird sein Sendungsbewusstsein öfters so wahrgenommen. Sendungsbewusstsein klingt nach Missionarentum. Ganz recht. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Moderne, wie man die westliche Lebensart zusammenfassend benennt, ihre religiöse Abkunft verrät. Respektlosigkeit und Missionseifer des Westens sorgen dafür, dass sich noch heute ganze Völker feindlich gegen uns stellen.

In planetarischen Verhältnissen, wie sie derzeit bestehen, muss die Politik grundlegend sich ändern. Die Grundfrage bisheriger Politik lautet, wie wir uns vor anderen Gemeinwesen absichern. Dieses Anliegen sollte ersetzt, sicher aber ergänzt werden durch die Sorge, wie wir es schaffen, dass andere Gemeinwesen sich vor uns sicher fühlen. Dabei spielt keine Rolle, was uns voneinander unterscheidet.

Von dieser Vernunft sind wir auch im Westen weit entfernt.