Ein Flüchtling hält Lesungen zu Texten über die Heimatlosigkeit, die ihm aufgezwungen wurde. Das Schweizer Publikum zeigt sich betroffen und verschreckt ob der Vorstellung, uns würden wie ihm die Wurzeln gekappt. Von diesem Leid habe auch ich keinen Begriff. Das verpflichtet mich zu Respekt. Dennoch fällt mir an diesem Menschen eine merkwürdige Sturheit auf.
Geduckt sitzt er da, die Stimme gedämpft, die Miene ernst, als hätte er sich in sein Opfertum verbissen. Dieser Eindruck drängt sich mir auf. Und das sollte mich beschämen. Aber der Gedanke bleibt haften, dass eben diese Sturheit einen beträchtlichen Teil zu diesem Leid beisteuert. Diese Vermutung mag man geschmacklos finden, schliesslich ist Vertreibung ein schlimmes Schicksal. Diese Gedanken richten sich denn auch nicht an Ukrainer, die zur Zeit aus ihrer Heimat fliehen. Oder an Syrer oder Eritreer.
Vielmehr sind sie an Putins mutmassliches Vorhaben adressiert, ein spätzaristisches Grossrussland wiederherzustellen. Sein Überfall auf die Ukraine soll damit zusammenhängen.
Wozu dieses Projekt, wenn doch alle gesellschaftliche Ordnung seit je mit der Zeit erodiert. Warum denn nicht Russland auf seine Ausdehnung zurückführen, die es um 1000 n. Chr. aufwies? Das wäre ein dummer Vorschlag, denn wir hängen vergangener Grösse nach, wohl kaum den Verhältnissen davor. Nichts hat Bestand, auch Grossreiche schwächeln und gehen in Formen über, in denen sie nicht wiederzuerkennen sind. Das rohe Zuschlagen russischer Gewalt im Ausland zugunsten einer glorreichen Heimat, die längst vergangen ist, erinnert eher an einen Todeskampf. Je roher die Gewalt, desto höher die Dringlichkeit. Diese Formel gilt es im Auge zu behalten.
Man stelle sich vor, die Briten kämen auf die Idee, die verlorene Grösse Englands als imperiale Weltmacht wiederherzustellen. Am besten in seiner Ausdehnung unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg. Sie müssten Krieg gegen Indien führen sowie gegen Südafrika. Ganz Australien und Kanada wären zu besetzen. Zum Glück kommt es keinem Österreicher in den Sinn, seine Heimat in der Ausdehnung der Donaumonarchie wiederherstellen zu wollen. Oder es zu müssen glauben. Auch hier wären mehrere Kriege anzustrengen, gegen Ungarn, Slowenien, Norditalien, Tschechien und die Slowakei. Man müsste miese Tricks anwenden, um als Verteidiger von Rechts wegen den Krieg zu eröffnen und nicht als Aggressor, wie Bismarck damals, als sie das Kaiserreich zusammenschusterten. Irgendwelche Vertragsbrüche, über die sonst hinweggesehen wird, könnten als Anlass zum gerechten Krieg dienen. Die lassen sich schon finden, wenn man genauer sucht, genauer nachliest. Oder man hilft nach und frisiert die Sache, wie geschehen damals bei der Emser Depesche. In der Tat gibt es Personen, die noch heute daran leiden, dass das Kaisertum verabschiedet ist. Aber sie scheuen sich, die Stimmen zu erheben, in der Sorge, man könnte sie als Minderheit blossstellen. Im Zuge der Corona-Krise jedenfalls feierten sie die baldige Rückkunft des deutschen Kaisers. Oder des Kaisers von Deutschland? In Russland wird dieses Projekt der Wiederherstellung einer glorreichen Heimat einem ganzen Volk aufgebürdet. Bereites häufen sich Opfer. Dieses Beispiel zeigt klar, was längst auf der Hand liegt:
Menschen töten Menschen, nur damit ihre Heimat gesichert ist. Unsere Fixiertheit auf Heimat hat Kriege zur Folge.
Und Völkermorde. Zivilisten, Kinder, Hochschwangere.
Heimatlosigkeit mag früher Leid und Orientierungsverlust bedeutet haben. Heute hat sie mit Friedensstiftung zu tun.
Wie aber halte ich es mit der Schweiz, meinem Heimatland? Ich gehöre einer Generation an, die sich der hauptsächlichen Tendenz nach nichts aus Folklore und Tradition macht. Meine Verwandtschaft dünnt zunehmend aus, das Bedürfnis nach Zusammenhalt schwindet beträchtlich. Hingegen bekenne ich mich zum Verfassungspatriotismus. Das klingt nur bedingt herzerwärmend, und es zieht nüchterne Folgen nach sich: Denn wenn die Grundrechte weltweit durchgesetzt sind, wenn überall ein massvolles Ineinander von Föderalismus und Zentralismus herrscht, wenn die Nationen ihre Minderheiten mit Anstand behandeln und wenn alle, die es wünschen, am politischen Prozess teilnehmen und sich zuletzt der Mehrheit unterordnen, dann ist auch eine Schweiz nicht mehr notwendig. Jedenfalls sehe ich keinen zwingenden Grund mehr für ihren Fortbestand. Es sei denn als Einzugsbereich einer Verwaltungseinheit dieser durch und durch modernen Politik.
Ein Schamane soll gesagt haben, wenn er seinen Platz verlasse, gehe er nirgendwohin. Schliesslich bewegten wir uns auf dem Planeten wie auf einer Kugel. Und da fragt es sich, wie es kommt, dass wir derart an einem Stück Erde festhalten, statt einzusehen, dass dieser ganze Planet uns allen Heimat genug bietet? Wenn wir Heimat verteidigen, halten wir an Gewohnheiten fest. Und jedes Recht fusst in der Anerkennung, dass wir zu unseren Gewohnheiten ein eher ökonomisches Verhältnis pflegen, indem wir es zu kostspielig finden, sie andauernd zu wechseln. Das begründet wohl jedes konservative Anliegen, letztlich auch das Engagement eines Konfuzius, wonach wir die Dinge, besonders Regeln im sozialen Umgang so belassen sollten, wie sie sind. Das bedeutet jedoch, das Leben einzufrieren, das Bewahrung zwar zulässt, genauso aber ist es auf Veränderung aus. Der Widerstreit zwischen Veränderung und Bewahrung spielt sich in Natur und Kultur seit je ab. Diese Spannung lässt sich aus dem Leben nicht fortdenken.
Konservative, Heimatvertriebene: Es gibt Menschen, die an Bewahrung schleichend zugrunde gehen, andere erleiden von grundstürzenden Veränderungen eine Wunde, die ihr Leben halbiert. Beide sollten sich bewusst sein, dass sie zufällig, sei es als Opfer oder Vollstrecker, an einer Dynamik teilhaben, die im Leben gleichwertig mit ihrer Gegenbewegung oder Gegendynamik immer wieder vorkommt.
Daher wünsche ich mir ein Lebensgefühl, wie der Schamane es pflegt, dass ich mich auf einem Planeten solange bewege, bis ich irgendwo, völlig egal wo, auf seiner unendlichen Rundung mein Leben lassen werde.
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