Seitdem die Massnahmen vom Tisch sind, trifft man wieder auf Menschen mit vollständig enthüllten Gesichtern. Die Masken fallen. Im Kino oder beim Einkaufen dünken mich die Gesichter besonders nackt. Ich bilde mir sogar ein, es knistere leicht zwischen den Menschen.

In der Reihe vor der Kasse ertappe ich mich dabei, wie sehr ich auf Lippen schaue. Und der Eindruck bleibt haften, dass die Blicke länger aufeinander ruhen als sonst. Eine geheime Übereinkunft scheint zu wirken, dass die Neugier für alle nach Monaten reizvoll und verständlich ist, entblösste Gesichter zu betrachten. Schon früher dachte ich, dass ein Gesicht eigentlich genauso viel Körperlichkeit verrät, wie Kleider sie verbergen. Das Ganze erinnert mich an eine Prüderie, die für überwunden gilt. Man bedenke, einst waren bei Frauen entblösste Knöchel verpönt. Der Mann ging immer vor der Frau in Röcken die Treppe hoch oder herunter, damit er keinen Blick auf diese Körperzone erhaschte. Darüber macht man sich heute gerne lächerlich, übersieht jedoch den jähen Reiz, den es ausübte, wenn ein Knöchel überraschend gelüftet wurde. Vielleicht spielt bei diesem Tabu eine besondere Menschenkenntnis eine Rolle, die uns abhandengekommen ist. Sie verrät etwas Intimes über die Frau, nämlich soll die Breite ihrer Fessel das Aufnahmevermögen ihres Geschlechts verhältnisgenau abbilden. Händchen halten war früher untersagt, solange die Beziehung ohne Segen blieb. Überhaupt herrschte Verschwiegenheit in Sachen Sexualität und Aufklärung. Mein Vater erfuhr von seinem Vater bloss dies eine: «Hüte dich am Morgarten.» Damit war es getan. Die Bezeichnung Morgarten mag vielleicht ungewollt viel Unbewusstes anklingen, es dürfte wohl eher der Fall gewesen sein, dass mein Grossvater wie die meisten seiner Zeitgenossen zu der Deutlichkeit ausserstande war, die heute fast gnadenlos geübt wird. In neusten Lehrmitteln für Fächer, die man einst Realien nannte, taucht Aufklärung mehrfach auf. Die drückende Unklarheit will vermieden sein, indem die Sachlage abstrichlos ausgeleuchtet wird. Entwicklungsstadien, Phasen der Annäherung, peinlich genaue Anatomie, das durchschnittliche sexuelle Empfinden, alles wird klinisch genau aufbereitet, sodass man sich auf Einzelheiten fixiert, lange bevor es an ihre Erfahrung geht. Das ist ein völliger anderer Zugang, als wenn man wie früher ahnungslos in die Geschlechtlichkeit rutschte.

Zwar hat diese Unwissenheit Menschen belastet. Genauso bedeutete sie ein Zauber für sie, eine besondere Würze des Lebens, von dem wir keine Ahnung haben. Mit jedem Tabu, mit jedem Verbot, das vom Tisch ist, kommt unserem Leben eine süsse Aufregung mehr abhanden.

Eine Verarmung sondergleichen.

Dafür lässt uns jetzt die Pandemie nackte Gesichter entdecken und geniessen.