Was ist eigentlich Geist genau? Da gibt es verschiedene Antworten. Eine ist mir während der Pandemie aufgegangen. Und auch jetzt beim Krieg in der Ukraine. Dieser Ansatz ist aber eher anstrengend. Denn es geht darum, dass man verschiedene Narrative in Gedanken austauscht, also Geschichten, die in diesem Fall Missstände wie die Seuche oder diesen Krieg erklären. Die Sicht auf die Welt kippt dadurch von einem Extrem ins andere und wieder zurück. Das ist Geistarbeit.

Die Narrative zu Corona sind bekannt, wenn auch verklungen, zumindest dem Anschein nach, aber der trügt wie so oft: Das Virus springt zufällig auf den Menschen über, so die öffentliche Verlautbarung. Das liegt daran, dass wir zu viel Natur weggeräumt haben oder zu tief in sie vorgedrungen sind. Die Massnahmepolitik, die darauffolgt, richtet sich ganz nach dem Verhalten des Virus. Dabei blicken wir in Echtzeit in die Betrieblichkeit der Wissenschaft, wie sie mit Unwissen umgeht, wie sie Irrtümer ausgleicht, wie sie aus Sackgassen findet. Dem gegenüber steht das private Narrativ der heimtückischen Freisetzung des Virus, beziehungsweise seiner Konstruktion in Laboren oder seiner blossen Erfindung. Die Massnahmen, insbesondere die neuartige Impftechnologie, sind von einer heimlichen Weltelite diktiert, die über Gruppierungen wie Stiftungen, Thinktanks oder Geheimlogen mit massiven Geldmitteln das Ziel durchsetzt, die Menschheit in ihrer Vermassung zu lichten. Das wäre dann ein antirassistischer sowie antinationalistischer Völkermord.

Nun der Krieg in der Ukraine: Die Narrative, die diese Hölle erklären, sind klar aufgestellt und beide öffentlich: Die Rechtfertigung Putins einerseits und das geteilte Entsetzen des Westens andererseits. Dieses sieht einen isolierten Machtbesessenen, der nirgendwo Freiheit duldet und keine Selbstbestimmung. Das gilt für das eigene Volk sowie wie für die Ukraine als Wiege Russlands und Brudernation. Ein seit je an Härte und Diktat gewöhntes Volk, bei dem Gewalt zur Kultur gehört, verträgt keine Freiheit. Putins Narrativ betrifft ein Relikt aus dem Kalten Krieg namens NATO, das wider alle Versprechungen, die zur Wiedervereinigung Deutschlands führten, nicht an Ort geblieben ist, sondern das Vakuum, das der Warschauer Pakt hinterliess, gleichsam aufgefüllt hat, bis an die Grenzen zur Ukraine. Zwar sind in den vormaligen Sowjetstaaten Osteuropas nur Schutzschirme gegen Russland eingerichtet und keine atomaren Offensivwaffen, jedoch ist anzunehmen, dass diese rasch auf Position gebracht wären. Zu diesem Narrativ gehört die finanzielle Unterstützung des Euromaidan durch die CIA in der Höhe von einer Milliarde, sowie die Diskriminierung der russischen Industriearbeiter im Osten der Ukraine durch die prowestliche Regierung, die sich abspalten und nach Russland drängen. Dazu kommt der leide Umstand, dass die westliche Lebensart, wenn sie sich im Nachbarland durchsetzt, eine Art Sog entfaltet, der über die Grenze tief ins russische Volk ausgreift. Kein Militär, kein Grenzposten vermag den Neid unter Russen aufzuhalten, wenn sie sehen, wie sich der Lebensstandard des jungen Brudervolkes Ukraine so beträchtlich hebt, sodass ihre patriarchale Gesellschaft zu erodieren anfängt. Diese Lage vergleicht sich mit dem Ausbluten der DDR, als die Hochkonjunktur in Westdeutschland florierte. Die Mauer gab dort die Antwort, ein Gefängnis für das eigene Volk, hier der Überfall der Ukraine durch hochgerüstete, aber ahnungslose Truppen Putins. Die Ukraine wird zum Leck russischer Kultur.

Sowohl der Mauerbau als auch der Krieg Putins sind daher als Todeskampf eines Staates zu verstehen.

Diese Narrative, je zwei pro Sachverhalt, kann ich mir von einem Augenblick auf den anderen vergegenwärtigen. Ob ich sie gleichzeitig zu denken in der Lage bin, bezweifle ich, immerhin gilt Multitasking als ungesund für menschliche Gehirne, sicher aber nacheinander. Anfangs der Pandemie kam es vor, als ich mit dem Fahrrad statt per Bus zur Arbeit fuhr, dass ich am Hörnliberg stoppte und in die Weite blickte, über all die Dörfer vor mir. In Gedanken tippte ich auf jedes Haus und sagte mir, da drin sind sie mit der Pandemie beschäftigt, sie wenden Massnahmen an, sie reden darüber, streiten darüber, sie debattieren die Narrative zur Seuche. Und während ich so stehend in die Weite blickte, das Fahrrad zwischen den Beinen und die Arme in die Hüften gestützt, wechselte ich in Gedanken diese grossen Erzählungen spielerisch hin und her. Da merkte ich, dass sich sonst nichts an mir änderte. Der Atem ging gleich, der Herzschlag wohl ebenso, ich hielt die Augen offen, ich blieb völlig regungslos. Dennoch veränderte sich etwas. Und eben dieses kann nur Geist sein. Oder diese einzige Veränderung, die es ja geben muss, wird seit je her mit diesem Ausdruck bezeichnet. Diese Veränderung wird nämlich dadurch belegt, dass ich mich anders in dieser Welt aufgehoben fühle, sprich anders bedroht in diesem Fall, je nach dem, welches Narrativ ich für zutreffend halte. Zwar lässt sich das Gefühl nicht einfach umschalten wie den Gedanken, aber in diese Richtung geht es durchaus, wenn man sich Zeit lässt. Daraus folgt, dass Personen, die eines dieser Narrative hochhalten, während sie das andere verteufeln, auch eine ganz bestimmte Befindlichkeit aushalten.

Ein ganz bestimmtes, in sich erstarrtes Dasein zur Welt.

Politische Klarheit verlangt, dass ich die Narrative grundsätzlich wechsle. Wie Brillenaufsätze für Schielaugen. Sie verlangt, dass wir an keinem Narrativ hängen bleiben. Aber was uns daran hindert, ist keineswegs verminderte Intelligenz. Sondern Hass, Argwohn, Gewohnheiten, Ängste, vielleicht Instinkte, die von tief herauf ins Bewusstsein funken. Nach Kant pfuscht unser gemischtes Wollen in diese Arbeit des Geistes, unsere Sehnsüchte, unsere erbarmungswürdige Fixiertheit auf Heimat und Weltbild, unser Jammern und Klagen über das Leben.

Allesamt gut begründbare Hemmungen, die vielleicht dazu führen, dass man unsere Gegenwart mit pandemischer Zerstrittenheit irgendwann als postanimalistisch verbuchen wird.