In meiner unmittelbaren Nachbarschaft hat ein Begegnungsort namens Werkelei-11 eröffnet. Das Angebot addressiert sich an Menschen mit oder ohne Beeinträchtigung. Also an alle. An das ganze Leben. Und zwar buchstäblich an das ganze Leben, wenn man dem geistreichen Wortspiel «Werkelei» nachsinnt, das obendrein wohltuende Selbstironie anklingen lässt.
Das Lokal befindet sich eingangs von Stein am Rhein, wenn man von der Burg her durch das Nordtor die Altstadt betritt. In der Werkelei-11 wird getöpfert und gebastelt, es gibt Kurse für Kräuterkunde, für Yoga und Anderes. Anlässlich der Eröffnungsfeier waren viele Personen mit Beeinträchtigung anwesend. Ein hochgewachsener junger Mann kauerte immer wieder am Boden und fingerte und werkelte in den bemoosten Fugen im Kopfsteinpflaster herum. Unerwartet sprang er hoch und rannte mit riesen Schritten die Strasse zur Hauptgasse hinunter, beinah wie ein Pferd, während seine Betreuung sich gelassen aufmachte, ihn zurückzuholen. Und schon war er wieder da, ging in die Hocke, hüpfte federnd umher, während er seine Forschungen fortführte. Da befiel mich ein Bild, eher ein Einfall, als denn eine Vision, ich dachte mir die Stadt überfüllt von Menschen, wie damals üblich vor Jahrhunderten, bei geschlossenen Toren, sei es infolge Unwetters oder bei Einbruch der Nacht. In diesem dichten Durcheinander von Leuten wäre dieser junge Mensch mit seiner Beeinträchtigung wohl kaum aufgefallen.
Das ganze Leben, das wäre ein Gewimmel auf engem Raum. Die Gebisse unkorrigiert, von Hygiene keine Spur. Verkrüppelte, darunter Einäuger. Ein Haufen mit Beeinträchtigungen durch und durch. Die Menschen damals, heisst es [p 68-70], empfanden die Kruste von Dreck an sich als Schutz gegen eine Umwelt, aus der alles Mögliche unverhofft hervorbrach. Ihr gegenüber empfanden sie sich als porös, als leicht verführbar, leicht zu verhexen. Wir, die wir heute für unbeeinträchtigt gelten, sind dafür mehrfach Korrigierte, Zurechtgestutze, klinisch Verbesserte.
Vielleicht bedeutet Beeinträchtigung bloss eine eindeutige Abweichung von einer Norm, die in unserer Hochleistungsversorgungsgesellschaft allen abverlangt wird, sofern sie hirngesund sind. Das Individuelle an uns, um das wir heute so besorgt tun, weicht ebenso von einer Norm ab, wenn man es genau nimmt. Diese Abweichung ist allerdings deutbar. Sie fällt nur bedingt als Störung oder Beeinträchtigung auf. Allerdings leuchtet mir ein, dass zwischen normaler Verfasstheit und Beeinträchtigung ein Unterschied nach Graden besteht. Zum Beispiel kennt meine Familie den so genannte Pobri-Rest: Wenn ich die Wäsche aus der Trommel nehme, so kommt es vor, dass ein einziger Socken zurückbleibt. Das wäre an sich noch nichts Besonderes. Räume ich einen Schrank mit CDs, findet sich beim Abstauben im Schatten einer Ecke ein einzelner dieser Tonträger. In der Schule hängte ich meinen Laptop wieder an, nachdem ich bei einer Versammlung das Protokoll getippt hatte. Es waren sechs Kabel, für Beamer, Maus, Audiogerät, Netzkabel, Visulizer und für ein Aussenlaufwerk. Dabei vergass ich den Visulizer anzuschliessen. Und nur ihn.
Eigenart oder Beeinträchtigung?
Einem Viertklässler, der bei einem Kollegen in die Schule ging, wurde so genannte tiefe Frustrationstoleranz bescheinigt, geringes Einfühlungsvermögen sowie verminderte Impulskontrolle. Allesamt Beeinträchtigungen, jedoch gepaart mit blitzschnellem Verstand. Kündigte mein Kollege an, die Klasse werde sich nun mit Formen beschäftigen, so sprudelte es aus dem Buben sofort heraus: «Eckig, rund, spitzig.» Unentwegt nahm er Leimstifte zur Hand, was immer greifbar war, die Schere, den Radiergummi und werkelte damit herum. Seine Werkelei wirkte chaotisch. Bei genauerem Hinsehen jedoch machte sie durchaus Sinn. Seiner Beeinträchtigung wegen kam es zwischen dem Jungen und der Klasse täglich zu ernsthaften Konflikten. Einmal schlug er so um sich, da er sich missverstanden fühlte, dass mein Kollege mangels besserer Möglichkeiten dem kleinen Wütherich seinen eigenen gespannten Bauch zum Reinhauen darbot. So beruhigte sich die Situation. Daraus ergab sich ein eigenartiges Ritual zur Stillung bübischer Aggression. Mein Kollege erlaubte dem Viertklässler unter Kontrolle, das heisst nach Ankündigung und gewiss nicht während der Schulstunden, in seinen Bauch zu boxen, wenn ihm danach war. Das Ritual wirkte wunder. Der Junge fühlte sich auch mit seiner Aggressivität in der Mitte dieser Gesellschaft aufgenommen, das heisst im Bauch einer Autorität, die für diese Gesellschaft stand, denn bald darauf schrieb er eine Geschichte in seiner fürchterlichen Handschrift, die auf Linien und Ränder keinerlei Rücksicht nahm. Die Geschichte geht so:
Der Bub verirrt sich im Wald und fällt in eine Grube. Da findet er eine Tür, sie führt ihn in ein unterirdisches Haus mit Tieren in Terrarien. An der Wand sind zwei Druckknöpfe angebracht. Betätigt der Bub den einen, werden die Tiere gefüttert. Der andere gehört dem Besitzer des Hauses, das er dem Kleinen zum Wohnen zur Verfügung stellt. Der Junge darf auch diesen Schalter drücken. Und das Haus fährt nach oben. Nun steht es, an die zwei Stockwerke hoch, mitten im Wald. Auf dem Dach spriessen Bäume und Blumen. Der Junge lädt seine Familie ein, sie bevölkern sogleich die vielen Zimmer, spielen, essen, schauen Filme. Auch sein bester Freund eilt herbei. Sie durchforsten den Wald, klettern auf Bäume, befestigen Strickleitern, sie steigen in Höhlen, finden einen Braunbären, einen Schneeleoparden, sogar einen kleinen Tirex aus uralter Zeit. Und zuletzt einen Braunmilan, für den der Junge eine Voliere baut, die an sein Haus angrenzt. Wie kann man diese Geschichte anders verstehen, als die Geburt eines Selbstbewusstseins aus dem Dunkel missverstandener Beeinträchtigung? Und wer weiss, vielleicht stehen die Druckknöpfe für die Faustschläge, die in des Lehrers Bauch führten. Vielleicht wirkte das wie ein Fahrstuhl ins Licht.
Noch habe ich der Werkelei 11 in ihrer Alltäglichkeit bisher keinen Besuch abgestattet. Man sagt, das Leben bringe so viel Abweichungen sozusagen als Anpassung auf Vorrat hervor, damit bei einer unerwarteten Umweltveränderung wenigstens eine Handvoll Individuen als sofort Angepasste da sind. Sie gäben dann die Norm ab, nachdem sie unter uns als Eigenartige lebten. Oder als Beeinträchtigte. Immer öfter stelle ich mir die Frage, wie es kommt, dass gerade jetzt so viele Asperger oder Hochsensible die Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Eigenart oder Beeinträchtigung?
Gegen beides gibt es wohlgemerkt kein Medikament, sowie gegen manche Beeinträchtigung nicht. Man fragt sich auch, was der Perfektionismus soll, wenn eine blanke Norm, sprich ein Idealzustand nur anhand zahlloser Abweichungen greifbar wird, die gleichsam um ihn kreisen, aber niemals aus sich selbst heraus. Mir scheint, der Perfektionismus besteht unter uns eher als verbissene Überzeugung, weniger als eine Tatsache, wie lebendige Abweichungen sie verkörpern. Aber vielleicht verkennen wir auch seine lebendige Aufgabe, wie uns auch das Geheimnis mancher Beeinträchtigung entgeht. Vielleicht ist der Perfektionismus eher als Wegweiser zu verstehen und weniger als Endzustand.
Eigentlich ist das ganze Leben eine Werkelei schlechthin.
Man bedenke, es passieren mehr Fehler, als uns lieb wäre. Das Leben, so stelle ich mir vor, verbucht sie keineswegs als Misserfolge, sondern als Beitrag zu einer feineren Justierung in allen seinen Belangen.
Jemand verglich einmal das Leben mit einer klug verständigen, allerdings taubstummen Person. Es tastet sich vor, werkelt herum, bildet Gewohnheiten aus, stösst an, verwirft sie wieder.
Und durchläuft so Evolutionen zu ungewissem Ziel.
Dank seiner unermüdlichen Werkelei.
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