In Machthabern vermuten wir Menschen, die aus blanker Souveränität handeln. Als verfügten sie über endlose Reserven. Vielleicht überschätzen wir sie, damit wir wachsam bleiben. Wäre Putin jedoch eine Matrjoschka, was genau spränge als sein Innerstes zuletzt heraus? In seinem Fall müsste man eigentlich von einer Patrjoschka sprechen, sofern es das gäbe. Wer also könnte das sein?

Wäre da zuinnerst ein kleiner Erzbösewicht? Laut Berichterstattung ganz gewiss. Aber gehen wir der Reihe nach: Zuäusserst tritt uns ein Machthaber sowjetischen Zuschnitts entgegen. Ein Hüter Russlands, gewiss. Die NATO steht vor der Tür. Gorbatschov nickte seinerzeit die Wiedervereinigung Deutschlands nur unter der Bedingung ab, dass die NATO auf ihrem Platz verbleibt. Man sagte zu und brach das Wort. Darauf folgt eine seltsame Figur, nämlich so etwas wie ein Stabilisator des Westens. Wie bitte? Tatsächlich gibt Putin einen zuverlässigen Feind für uns ab, der dafür sorgt, dass wir früh aufstehen, um gegen ihn gerüstet zu sein. Daher sollten wir froh sein um ihn. Gemäss dem Sprichwort, du solltest dir einen Feind wählen, damit dein Leben im Gleichgewicht bleibt. Oder: Finde einen Feind, und dein Tag hat Struktur.

Die nächste Figur, die herausspringt: Putin als verunsicherter Geheimdienstoffizier zu Dresden in den Jahren des Falls und der Wende. Gefolgt von Putin, einem Nostalgiker des Zarentums. Und schliesslich die kleinste Figur: Kein Bösewicht, sondern Putin in Windeln. Als heimlich getaufter Sohn der russischen Kirche, der noch heute vor Ikonen Gewissheit tankt.

Ende vergangenen Jahrhunderts sah Putin Russland unter versoffener Führung an Tycoons verschachert. Beraten von Gefolgsleuten der Chicago-Boys, die sich nach sieben Jahrzehnten Feindschaft ob der russischen Rückständigkeit in Sachen Kapitalismus wohl genüsslich die Hände rieben, privatisierten sie Volksvermögen. So bekamen sie es von diesen Beratern erklärt. Eigentlich stahlen sie ihren Reichtum zusammen, indem sie verwaiste Parteikassen einsackten. Das sollte uns nicht verwundern, denn alles Private bedeutet seinem Wortsinn nach letztlich nur Zusammengeklautes. Aus Sicht Putins wurde Mütterchen Russland heimtückisch ausgeweidet. Und ebenso heimtückisch setzte er diese Tycoons matt. Mit allen Mitteln. Nun lassen sich die Diebe vom Westen als Putins Opfer hofieren. Man vergleiche: In den 90gern hatten  sie sich noch in Pose geworfen. Mit Sonnenbrille, Nerzen und teuren Ringen. Nun kauern sie kärglich gekleidet hinter Gitter, bereit zum Verhör, und erweichen unsere Herzen.

Man sagt, Putins Einfluss stehe und falle mit kirchlicher Zustimmung. Ihrerseits benötigt die Kirche einen politischen Schutzmantel, der die Verwestlichung Russlands nur dosiert zulässt. Putin, der diesen Schutz gewährleisten soll, wird mit Macht und Pflicht vollgepumpt, sodass ihm früher oder später nur noch die Flucht nach vorn übrig bleibt. So schiebt ihn die russische Volksmasse, sprich die Kirche nicht nur über Landesgrenzen hinweg, sondern gleichermassen über moralische Gebote und internationale Gesetze, die aus ihrer Sicht ohnehin zugunsten westlicher Kultur gestrickt sind. Denn es hat sich weltweit mehrfach bewiesen:

Unter westlichem Einfluss verschwindet die Tradition.

Dem Machthaber, also Putin in diesem Fall, versperren sie den Weg zurück. Wie der eigene Feldweibel mit der Pistole am heimischen Schützengraben. Sie drohen ihm mit Kaltstellung,  schlimmer noch mit Vergessen. Aber der Machthaber beschmutzt sich für alle. Das klingt beinahe schon christlich. Im Herzen der Macht häufen sich schlaflose Nächte. Und ob Putin, wie andere Diktatoren, für diese dauerhafte Entbehrung sich reichlich belohnt, bleibt unklar. Allerdings tauchen Bilder auf von Jachten und Luxusvillen, die angeblich Putin gehören. Warum auch nicht? Er macht sich ja die Hände schmutzig.

Für alle.

Uns mag es gleichgültig sein, wenn Religion und Tradition zur blossen Privatsache verkommen. Ein für mich unverzichtbarer Grundsatz. Aber das zeichnet mich keineswegs aus, schliesslich ist dieser Grundsatz in jeder westlichen Verfassung als Recht verbrieft: Religionsfreiheit, Versammlungsfreiheit. Jedoch nur als Privatsache. Das hat zur Folge, dass Kirchen hierzulande um Gläubige werben. Sie biedern sich jedem Zeitgeist an, damit ihre Bankreihen wenigstens teilweise gefüllt sind. Eine peinliche Geschichte. Nicht für mich, aber für jene, denen Tradition am Herzen liegt.

In Russland sieht man das anders. Aus klaren Gründen. Genauso etwa die wahabitischen Sauds. Ebenfalls aus klaren Gründen. Sie statten Machthaber mit aller Zustimmung aus und nicken vorweg ihr Vorgehen ab, damit sie dieser Erosion westlicher Abkunft vorbeugen.