Immer wieder hört man von Personen, die davon überzeugt sind, nichts Böses könnte ihnen etwas anhaben. Also auch ein Virus nicht. Sie meinen, dass sei eben die Regel. Aber was macht sie so sicher? Keine Regel zeigt an, dass sie sich wie bisher fortsetzen wird. Das hat uns Wittgenstein gelehrt. Eine Regel zeigt nur, wie sie in ganz bestimmten Fällen abgelaufen ist, die man nachträglich überblickt, aber niemals zuvor.
Die Gebrüder Bogdanovic in Frankreich hielten sich für geschützt vor Corona. Ohne Impfung. Nun sind sie als Verstorbene in die Statistik eingegangen. Auch andere Fälle dieser Art sind bekannt geworden. Eine gewisse Genugtuung lässt sich kaum verkneifen, auch wenn sie geschmacklos ist. Ein Gefühl halt, wie so oft. Gefühle sind zweckmässig von Natur her, aber ein bisschen Überlegung könnte das harte Urteil entschärfen. Die Leute, für die gewiss scheint, ein gutgesinntes Schicksal halte die Hand über sie, greifen diese Überzeugung ja nicht einfach aus der Luft. Sie machen Erfahrungen, die sich regelmässig unter ähnlichen Umständen wiederholen. Erst staunen sie über Zufälle, dann darüber, dass sie in dieser Art immer wieder auftreten. Genau so, wie wir sonst dazu kommen, eine Regel zu fassen, die auch für Fälle dienen soll, die noch nicht passiert sind.
Der Volksmund jedoch weiss, keine Regel ohne Ausnahme.
Diese Leute wirken deshalb überheblich, da sie die volkstümliche Weisheit von der notwendigen Ausnahme jeder Regel missachten. Denn sie kommen sich ungewöhnlich vor. Dem Volksmund überlegen. Aber auch dafür haben sie Gründe, die sie nicht erfinden.
Wittgenstein [§ 138-242 ] hebt hervor, dass eine Regel immer nur an bestimmten Fällen klar wird, die zahlenmässig begrenzt sind. Wer sich von allen Übeln dieser Welt beschützt wähnt, kann auf Nachfrage hoffentlich alle Situationen aufzählen, in denen er auf wundersame Weise vor einem bestimmten Missgeschick bewahrt wurde. Sei es durch unverhoffte Warnung oder durch Ahnungen, die zur rechten Zeit einfach so gekommen sind. Ihre Regel könnte lauten: Setze ich mich Gefahren aus, werde ich beschützt. Dabei fehlt die Garantie, dass dies auch in Zukunft jedes Mal so der Fall sein wird. Wittgenstein würde sagen, du kenntest nur ein Stück der Reihe aller gültigen Fälle deiner Regel, während du die unendliche Reihe davon zu kennen beanspruchst [ebd. § 147]. Dass eine Regel immer zutrifft, wäre aus informatischer Sicht ein Algorithmus zweiter Ordnung. Eine Regel somit, die der ersten Regel übergeordnet wäre. Die erste Regel macht einen Algorithmus aus, der genau beschreibt, wie ein bestimmter Vorgang abläuft. Die Regel handelt von diesem Ablauf. Die zweite Regel, der ersten übergeordnet, wäre demnach ein Algorithmus, der von der ersten Regel handelt, indem er anweist, unter welchen Bedingungen sie in Kraft tritt.
Dieser zweite Algorithmus ist deshalb metaphysisch zu nennen, da er auch Fälle meint, die noch gar nicht passiert sind. Metaphysisch also deshalb, da er den Wissenshorizont dieser Menschen überschreitet.
Die Überheblichkeit von Menschen, die sich beschützt fühlen, egal welches Risiko sie eingehen, greift also noch weiter, denn sie massen sich auch diesen metaphysischen Algorithmus an.
Damit erdreisten sie sich, die Zukunft zu kennen.
Man darf sie mit Wittgensteins Worten zu Bescheidenheit anregen, denn er schreibt, wir würden eine Regel blind befolgen [ebd. § 219]. Aber dabei fühle ich mich ebenso unbehaglich. Denn auch diese Anmassung ist volkstümlich und keineswegs besonders. Denn in vielerlei alltäglichen Situationen meinen wir die Zukunft zu kennen. Nur schon wenn wir halbbewusst annehmen, dass wir beim Treppensteigen heil unten ankommen. Niemand ginge Risiken ein, würde er sachlicherweise erwarten, die Ausnahme einer Regel könnte gerade jetzt ihn schädlich treffen. Jede Gewohnheit trägt in ihrem Kern diese Überheblichkeit. Das Gegenteil der Bogdanovic-Brüder wäre jemand, der sich vor aller Wirklichkeit abschottet.
Und es gehört zu unserer intimen Ökonomie, dass wir Gewohnheiten befolgen, ohne Wahrscheinlichkeiten abzuwägen.
Auch wäre ohne diese Anmassung keinerlei Vertrauen möglich. Eine ganze Gesellschaft würde erstarren.
Das Leben will, dass wir Risiken eingehen. Dass wir Sicherheiten ausblenden, Schmerzen und andere Schwierigkeiten vergessen, damit Leben geschieht.
Damit es vorwärts kommt.
Wohin auch immer.
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