Vor Jahren traf ich einen Berufsschüler im Zug. Seinen Rucksack hatte er derart mit losen Arbeitsblättern vollgestopft, dass der Sack tiefer war als breit. Ein gepresster Block, bestehend aus Schulmaterial. Ohne Reiter oder Mäppchen dazwischen, die Orientierung geboten hätten. Über diesen jugendlichen Eigensinn sehe ich Leute den Kopf schütteln. Und ich sehe mich, wie ich diese Kritiker kopfschüttelnd mit Unverständnis bedenke. Sie könnten es besser wissen.

Leider versäumte ich, den Jungen um Erlaubnis zu bitten, ob ich seinen Rucksack ablichten dürfe. Für mich war das ein reines Kunstwerk. Um den Heranwachsenden zu besserem Verhalten zu ermutigen, könnte man argumentieren, das Blättergebilde sei schwierig zu durchsuchen. Ein bisschen Ordnung wäre doch hilfreich. Der Junge jedoch fand mühelos, was zu lernen anstand. Ein, zwei Mal die Finger zwischen die Blätter gesteckt, und schon zog er verklammerte Kopien heraus, auf denen er seine Augen ruhen liess. Ein paar Minuten, für mehr bestand kein Bedarf.

Diese Begegnung rief mir in Erinnerung, dass viele Berufsschüler, die sich mit mir als Fachlehrkraft abzufinden hatten, solche vollgestopften Mappen mit sich herumtrugen. Eine Unart, die sich im Übrigen auf kein Geschlecht beschränkte. Die schweren Blöcke schienen ein ganzes Jahresprogramm zu beinhalten, am besten in allen Fächern. Das Kopfschütteln über diesen Eigensinn ist mir besonders aus Notenkonventen vertraut. Immer hiess es, der oder die kapiere es einfach nicht. Als beständen diese Menschen nur aus Kopf und Verstand. Diese Empörung kam in Varianten daher. Etwa: Sie oder er wollten etwas einfach nicht kapieren, was dem Tatbestand schon eher gerecht wird. Oder: Sie könnten mehr, wenn sie denn wollten. Ich staunte immer, wie sehr diese Leute über das Innenleben von Berufsschülern Bescheid wussten.

Die eigentlich pädagogische Frage wäre diese: Warum können sie nicht wollen?

In all den Jahren erlebte ich immer wieder so genannt schwierige Fälle von Absolventen, die sich ab Eintritt in die Lehre, also ab sechzehn besonders widerstandsfähig gegen Belehrung zeigten. Sie gaben vor, einsichtig zu sein, unterschrieben eine Vereinbarung um die andere, mit dem Klassenlehrer, mit dem Sozialarbeiter, mit dem Lehrmeister, ohne dass sich jemals etwas änderte. Auf einmal, so ab zwanzig Jahren, aber auch erst später, normalisierten diese Leute ihr Verhalten.

Und zwar von allein.

Die zahllosen Ermahnungen Jahre zuvor erwiesen sich als nutzlos. Man hätte sie sich sparen können. Immer wieder vermeldeten Ausbilder mit freudigem Erstaunen, die schwierigen Fälle überraschten auf einmal mit einer wundersamen Angepasstheit. Auf einmal verhielten sie sich wie schon lange gewünscht.

Und immer staunte ich über ihr Erstaunen.

Manche Ausbilder gewinnen Selbstbewusstsein aus dem Irrtum, ihr unermüdliches Ermahnen hätte zuletzt doch Früchte getragen. Eine erfahrene Kindergärtnerin verriet mir vor Jahren, sie überlege sich immer, wer von den Kindern, die ihr anvertraut waren, später das Gymnasium besuchen und wer eine Lehre in Angriff nehmen würde. Diese Gedanken behielt sie strikt für sich.

Und immer bekam sie Recht.

Ihr Bescheid scheint einer Bankrotterklärung an Lehre und Erziehung gleichzukommen. Das kann man anders sehen. Lehrkräfte, Eltern, allgemein Erzieher nehmen einfach an, ihr beharrliches Einwirken habe endlich Früchte getragen, wenn die Heranwachsenden sich unverhofft bootmässig verhalten. Aber sie haben keinen Beleg dafür. Dabei übersehen sie auch gerne, dass die wirksamsten Erzieher immer die Gleichalterigen sind. Daher glaube ich selbst als Lehrkraft kaum an die Wirkung passgenauer Massnahmen. Es verhält sich wie bei Orchideen. Ich kann sie in den Windschatten stellen, für Licht sorgen und sie regelmässig düngen und giessen. Zum Blühen aber bringe ich sie nicht. Jedenfalls gab es schon Gewächse, die bei gleicher Sorgfalt verkorkst blieben. Gerade so wie unbelehrbare Berufsschüler.

Es ist die Natur, die für diese erfreuliche Anpassung sorgt.

Das jedenfalls leuchtet mir eher ein. Als Lehrkraft sorge ich mit meinen Massnahmen wie Gärtner für die Voraussetzungen, dass die Natur gedeiht. Damit ist alles getan. Was die Jugendlichen betrifft, so klärt uns die Neurobiologie über Folgendes auf, wenn wir ihr denn Gehör schenkten: Das Gehirn befindet sich im Umbau ab Pubertät bis ins frühe Erwachsenenalter. Ungeachtet dieser Einsicht stellen wir Anforderung an Jugendliche, als wären sie schon erwachsen. Das nennt sich Fehlbehandlung. Sogar eine ETH-Professorin redet von ihren Kindern. Damit meint sie die Studierenden, die ihr anvertraut sind. Und diese dürften zwangsläufig älter sein als zwanzig.

Bildung hat sich nach wissenschaftlichen Standards zu orientieren. Das ist demokratisch verbürgt, hierzulande zumindest. Gewisse wissenschaftliche Erkenntnisse finden jedoch kein Gehör. Angenommen, man würde Rücksicht darauf nehmen, dass Jugendliche dieser Baustelle im Kopf wegen erst spät auf das Tageslicht ansprechen, und sie entsprechend zur Schule schicken, käme wohl Panik auf im Volk, ob unsere Zukunft gesichert sei, wenn Jugendliche erst im Verlaufe des Vormittags aus dem Haus schlurfen. Wir zeigen uns irritiert und beleidigt, wenn sie nicht so wollen, wie sie sollen. Offensichtlich sind wir die Idioten, denn wir hören nicht auf dieses Wissen. Auch dass Menschen zwischen sechzehn und zwanzig unbeirrt andere Prioritäten befolgen, legt uns die Wissenschaft eingehend auseinander. Den Jugendlichen geht es in erster Linie darum, wer sie eigentlich sind. Zuallererst ist ihnen um ihre persönliche Identität zu tun. Alles andere ist zweitrangig. Auch weiss man, dass Generationen ihr Eigenleben erzwingen. Mit allen Mitteln.

Dieser Blätterblock, den Berufsschüler gerne herumschleppen, mag weiter nichts bedeuten, als eine Performance, die ein Eigenleben garantiert.

Wenn ich das weiss, passe ich meine Erwartungen sinnvoll an. Jugendliche können nur wollen, wie sie sollen, wenn ihre Gehirnentwicklung auf dem entsprechenden Stand ist, wenn ihre persönliche Identität gedeiht und keine Probleme aufwirft, und wenn die Generation, der sie angehören, ihre eigenen Themen hat.

Also: Bei Heranwachsenden gilt grundsätzlich die Annahme einer Baustelle im Kopf.

Darüber hinaus ist von ihnen gar nichts zu erwarten.