Wer hat Angst vor dem Massenmenschen? Ich nicht.
Angst oder Sorge sollten uns vielmehr die Leute bereiten, die den dumpfen Massenmenschen vor Augen haben, wenn sie politische Entscheide fällen. Seit Urzeiten hat dieses Schreckgespenst königliche Räte genauso im Griff wie Spitzenpolitiker zurzeit, Unternehmer oder Verwaltungsbeamte. Auch in Think Tanks treibt dieses Gespenst sein Unwesen. Wenn ich mich für die These einsetze, dass es den dumpfen Massenmenschen gar nicht gibt, wirkt das auf eine Politik zurück, die sich an einer Illusion hochzüchtet.

Gerade in Zeiten von Corona haben wir es mit denkwürdigen Vorstellungen rund um den Massenmenschen zu tun. Skeptiker sehen Kräfte am Werk, die mit der Grossseuche eine Möglichkeit durchsetzen, die Menschenmassen in ihrer Freiheit zu bändigen. Im äussersten Fall geht es darum, diese Masse selbst zu vermindern. Allerdings haben auch Skeptiker kein gutes Wort für den Massenmenschen übrig. Täglich beklagen sie Heerscharen schlafender Dumpfbacken wie mich. Und Massnahmepolitiker fühlen die Menge im Nacken, sollten sie folgenschwere Entscheide treffen, die sie früher oder später in Misskredit bringen. Wehe ihnen, wehe allen, sind die Massen einmal losgelassen! Dem Bild nach erinnern sie an Rinder, die man notschlachten muss, sobald sie herausgefunden haben, dass sie mühelos den Stall auseinandernehmen oder den Bauern an die Wand pressen. Dieser äusserste Fall einer Masse, die ausser Kontrolle gerät, kommt in der Geschichte doch zu selten vor, als dass er Politiker in Exekutivfunktion andauernd in Atem halten müsste. Das trifft ebenso auf die Geschehnisse am 14. Juli 1789 in den Gassen von Paris zu, die als idealtypisch für die Dumpfheit der Massen gelten. Dabei waren es klare Gründe, die zu diesen Ausschreitungen führten, nämlich Hunger infolge Ausbeutung und Misswirtschaft sowie Missachtung vom Regime seit Jahrzehnten. Der Ausbruch entsprach weder einer vulkanischen Eruption, noch dem Moment psychischer Inflation, wenn jemand bar aller Vernunft einer archetypischen Kraft verfällt, die ihn vor anderen Schutz suchen oder sich gegen sie wenden lässt. Die Person wird dann zum Richter der Welt, zu ihrem Rächer oder Retter.

Die Masse war also von rationalen Gründen bewegt.

Vorwiegend handelte es sich damals um keine Masse, sondern um Frauen, die nicht einmal ihre Münzen in der Hand zu drehen brauchten, um einzusehen, dass der neuliche Preisanstieg alle in den Ruin treibt. Ein anderer Schauplatz: Wenn sich Millionen von Kormoranen, Tölpeln und Seeschwalben in einem riesen Durcheinander an einer Meeresküste versammeln, bleibt für uns zunächst ein Rätsel, was sie umtreibt. Sie flattern durcheinander, wandern im Kreis herum. Aber wir nehmen einfach an, dass ein Grund vorliegt. Bei der Natur sowieso. In diesem Fall liegt diese Vermassung daran, dass seit Jahrtausenden ganze Sardellenschwärme genau um diese Jahreszeit vorbeidriften.

Auch hier: Das Massenverhalten hat einen Grund. Demnach ist es rational.

Woher also diese Furcht vor der Masse? Wie kommt es, dass Menschen, denen allein von ihrer Gattung her Verstand mit Berechnung zugesprochen wird, im Gegensatz zu Tierschwärmen sich dumpfblöde benehmen sollen, wenn sie als Masse auftreten? Das erscheint mir derart absonderlich, dass es meine Neugierde weckt. Dumpfblöde bedeutet, dass jemand ausserstande ist, die Dinge immer feiner zu unterscheiden. Das mag auf eine Anhäufung von Lebensformen zutreffen, die wir natürlicherweise in ihrem Sosein verkennen. Aber diese Ansicht selbst, wonach Menschen in Massen dumpfblöde daherkommen, leidet an eben dieser Unterscheidungsschwäche. Sie überstreicht eine Vielfalt an Lebensgeschichten mit demselben rüden Urteil. Nichts wird detailgenau erfasst, nichts mit Geduld gegeneinander abgewogen.

Die Meinung von der Dumpfblödigkeit des Massenmenschen kommt selbst dumpfblöde daher.

Massenmenschen sind für mich Personen, die sich von einem Augenblick auf den anderen auf ein bestimmtes Vorgehen verständigen. Das lässt sie unberechenbar erscheinen. Aber sie vertreten die gleichen Interessen und teilen alle im gleichen Augenblick die gleiche Lesart ihrer Umwelt. So etwas geht nun mal blitzschnell.

Früher war ich einmal jährlich mit gut zwei Dutzend Jugendlichen in Berlin unterwegs. Ein Haufen von jungen Massenmenschen, bei denen auf der Hand zu liegen scheint, dass sie hinterhältig und durchtrieben sind, sollte man sie unkontrolliert lassen. Oft wurde ich gefragt, wie ich das bewerkstelligt hätte. Meine Antwort:

Ich habe ihnen blind vertraut.

Und Vertrauen, das ist immer blind, wenn es echt sein soll. Kontrolle ist nur dann besser als Vertrauen, wenn es um technische Belange geht. Bei Menschen verhält es sich gerade umgekehrt, aber das will man nicht verstehen. Die Gefahr des dumpfblöden Massenmenschen steht dieser Einsicht im Wege. Jedoch auf den Abklatsch einer Dumpfblödigkeit liess ich mich nie ein. Indem ich den Jugendlichen statt Kontrolle Vertrauen schenkte wie einer einzelnen Person in meiner Gegenwart, gab ich ihnen eine Milch zu trinken, die für ihr Heranwachsen mehr als aufputschend wirkt. Die Masse verhält sich wie eine Person dir gegenüber, wenn du sie so nimmst, als wäre sie eine Person. Indem du ihr vertraust, indem du dich für sie interessierst, indem du sie anerkennst.

Sprich die Person in der Masse an, die du zu lenken hast. Nimm an, dass sie immer Gründe für ihr Tun und Lassen hat. Gründe, die du nachvollziehen könntest, wären sie dir bekannt.

Wie immer bei Menschen.