Bloss eine Geschichte, bloss eine Tendenz vielleicht, sicher keine Behauptung für alle Fälle: Das Drama zwischen Vater und Tochter bewegt sich zwischen Vergötterung und Verleumdung. Beides hat kein gesundes Mass. Beides wirkt übergriffig. In dieser Abfolge kann es ein Leben noch in späten Jahren ruinieren. Nicht nur das Leben von Töchtern.
Als Kind erlebt der Vater die Flammenhölle von Hamburg. Es folgt eine Irrfahrt durch das kriegsversehrte Deutschland. Der Junge erlebt vernünftige Erwachsene in Panik vor den Russen fliehen. Nach dem Krieg verkauft er Pornohefte, um über die Runden zu kommen. In Süddeutschland in Obhut gegeben wird er beim Gemüsediebstahl von französischen Besatzern aufgegriffen. Später verpflichtet er sich als Ingenieur in der Rüstungsindustrie für die NATO. Das Wirtschaftswunder ereilt die junge Familie mit frühem Reichtum. Die Tochter nimmt Tennisstunden, der Vater trägt sie auf Händen, reisst mit ihr immer wieder aus für eine Fahrt mit der Jacht über das schwäbische Meer. Im Deutschen Herbst jedoch taucht sein Name auf Todeslisten der RAF auf. Die Kleine geniesst Polizeischutz auf dem Weg zum Tennis und zurück. Ihre freche Art mit Sommersprossen begeistert die Leute. Sie spielt, sie lebt verspielt, keck und frech. Später richtet sich die junge Frau nach dem neusten Trend, der an ihrer Schule wie überall angesagt ist, sie wird zum typischen Öko-Hippie der Achtzigerjahre. Das sorgt beim Vater erst für Stirnrunzeln. Wie sie jedoch eines schönen Sommers mit ihrem neuen Freund in Batik-Kleidern und schulterlangen Haaren zu Hause herumfläzt, tickt der Vater aus, denn er ist überzeugt, er werde von der RAF ausspioniert.
Von da an kippt Vergötterung um in Verleumdung. Der Vater fühlt sich von seiner Tochter verraten. Aus Ohnmacht beleidigt er sie, sodass sie sich weigert, ein einträgliches Studium anzugehen, wie es vorgesehen wäre, Juristin, Ärztin. Stattdessen wird sie nur Krankenschwester, mit Engagement in der Entwicklungshilfe. Die Rebellion steht der Tochter zunächst gut, jedoch fühlt auch sie sich zurückgewiesen. Die Fronten verhärten sich über die Jahre, sodass der Vater seiner Tochter klarmacht, dass er sich ganz bestimmt nie werde von ihr pflegen lassen. Selbst dann nicht, wenn er im Sterben liege.
Die Ablehnung des Vaters bestimmt weiterhin ihr Tun, allerdings im verkehrten Sinn: Aus Trotz begleitet sie einen mittelmässigen Zirkus als Hauslehrerin, gründet eine Familie mit einem Tierpfleger, der an der Nadel hängt. Das Ganze mündet nach Jahren ins reine Chaos.
Die Kraft zur Rebellion schwindet mit den Jahren. Der bunte Glanz fällt weg, auch ihre Schönheit, die ihr über all die Jahre im Umgang einträgliches Kapital war. Die väterliche Bitterkeit bleibt. Die Verwöhnung der Tochter fordert ihren späten Tribut. Mit merkwürdigem Ernst kann die Abgewiesene von sich behaupten, ihr stünden eigentlich eine Million zu. Einfach so. Weil es sie gibt. Stattdessen muss ein Bauernhaus her, mit zwei Pferden. Mutter und Pate regeln den Kauf, der Vater missachtet, was abgeht. Der Tochter widerfahren Dinge, die sie glauben lassen, sie sei verflucht: Beim Skifahren büsst sie die oberen Vorderzähne ein, eines der Pferde tritt sie ins Kreuz, im Alter wird sie von Schielen und Doppelbildern heimgesucht, eine Operation schlägt fehl, da sie in den entzündeten Muskel schneiden. Das nimmt ihr schliesslich ganz den Willen zum Leben.
Oder es spielt ihr einen Grund zu, der es ihr erlaubt, sich aufzugeben.
Jahre später treffe ich sie im Zug mit kurzgeschorenen Haaren. Sie leide an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Eine schwierige Krankheit, wie man weiss. Aber sie lacht.
Als hätte sie einen Fahrschein gewonnen, der sie endlich wegbringt.
Sie starb 2010.
Dezember 19, 2021 at 7:26 pm
Wer ist die Frau, wer Ihr Vater?
Du nennst bewusst keine Namen.
Ist das besser so?
Ein Politikum wollen wir ja nicht daraus machen. Eher eine Familiengeschichte. Zur Weihnachtszeit passend zu den Streitereien der Generationen über du-weisst-schon-was-auch-immer.
Verwöhnte Kinder, die erwachsen geworden sind, von Eltern die viel zu früh erwachsen werden mussten.
Wird man heute überhaupt noch erwachsen? Ist das das Ziel?
Nu, auf eigenen Beinen stehen können ist sicher vorteilhaft, so wie einen Beruf zu lernen oder ein Studium zu absolvieren.
Aber krank wollen wir dabei ja eigentlich alle nicht werden. Oder?
LG
Till