Der Neurobiologe Gerhard Roth schlägt ein neues Menschenbild vor. Menschenbilder leben von der Spannung zwischen Freiraum und Bestimmung. Die Einflüsse, denen wir unterliegen, sind nach neurobiologischen Befunden beträchtlich. Niemand erfindet sich aufs Geratewohl neu. Was Freiheit noch sein kann, das wäre also neu zu finden.
Menschenbilder werden nicht erfunden. Sie ergeben sich. Früher aus Mythen, heute aus Befunden der Wissenschaft, in diesem Fall der Neurobiologie. Manche Ratgeber spornen dazu an, sich selbst neu zu erfinden. Wie immer meinen sie es gut. Aber es bleibt Wunschdenken. Bei Gerhard Roth zähle ich weit über ein Dutzend Einflüsse [Übersicht ab p. 334], die der persönlichen Kontrolle entzogen sind wie Herzschlag oder Darmperistaltik: Die Wirkung der Gene und der Mechanismen, die darauf folgen und unsere Körperlichkeit festlegen. Diese Mechanismen unterliegen ihrerseits Umwelteinflüssen, von denen wir keine Ahnung haben. Ein Teil des Gehirns, das so genannte limbische System, bewertet alle Erlebnisse ohne unsere Zustimmung nach schädlich und förderlich. Wir verändern nichts an uns, ohne dass eine Belohnung dafür in Aussicht steht. Diese menschliche Tatsache haben wir nicht gewählt. Wir verfügen über ein Gehirn, das aus ökonomischen Gründen zuerst an Gewohnheiten festhält. Überhaupt zeigt es sich ständig daran interessiert, aus allem Automatismen zu machen. Auch greift es auf Mechanismen zurück, die sich stammesgeschichtlich bewährt haben. Dabei ist zu ergänzen, dass das soziale Gehirnsystem sich evolutionär am spätesten ausgebildet hat. Lange nach dem emotionalen und dem kognitiven Gehirnsystem. Wer sich selbst oder andere als Soziopathen beklagt, sollte diesen Umstand berücksichtigen. In dieser Sache ist die ganze Natur des Menschen noch unreif. Vieles liegt unveränderbar in der Vergangenheit, etwa die Tatsache, dass der Körper der Mutter das fötale Gehirn mitprägt, aber auch die Art, wie wir sozialisiert, wie wir ernährt und behandelt wurden. Insgesamt bestimmt die ungeheure Vielfalt unseres Lebens, was uns bewegt oder hemmt, ohne dass wir diese Sortierung rechtzeitig durchschauten. Das bewusste Ich, genau genommen ein Bündel neuronaler Zustände, die dynamisch miteinander verbunden sind, erfährt immer am Schluss, was alles schon in uns abgelaufen ist. Längst schon wurde, was es endlich innewird, neuronal bearbeitet, bewertet und sortiert.
Dieses Menschenbild liefert fein ausgearbeitete Konturen natürlicher Bestimmung. Was an Freiheit übrig bleibt, dürfte jene entmutigen, die viel auf ihre Souveränität geben. Auch verbuchen sie als Sieg, was sie erreicht haben, ohne dass sie die Einflüsse wertschätzen, die sie dabei begünstigten. Dennoch hadern wir mit diesem Menschenbild. Immerhin blicken wir auf Jahrhunderte der Emanzipation zurück. Diese Geschichte erzählt man gerne als Parabel vom Herrn und seinem Knechten. Auch Roth bedient sich diesem Bild [ebd. kp 6]. Der Herr nötigt den Knecht, bis dieser einsieht, dass der Herr nur deshalb die Vormacht innehat, da er ihm als Knecht zu Diensten ist. In der Folge bringt er ihn zu Fall. Der Knecht jedoch lässt den feudalen Willen unversehrt. Mehr noch, er übernimmt ihn sogar. Allerdings nötigt er niemanden sonst zu Gehorsam, als sich selbst. So will es Kant, so will es die Moderne. Das tritt eine Reihe von Emanzipationen los: Der Protestant liest Evangelien in seiner Mundart, da ihn nur der intime Glaube gottgerecht macht. Der König entmündigt den Hochadel und diszipliniert seine intrigante Verwandtschaft. Der Staat löst sich von der Kirche ab, die Siedler Nordamerikas von den Bestimmungen Englands. Adelige Herrschaften stürzen aus barocken Himmeln. Die Bürger errichten Barrikaden, damit sie Mitsprache erlangen, wie mit ihrem Vermögen zu wirtschaften sei. Die Arbeiterschaft hisst rotes Tuch, sie verkündet radikale Gleichheit. Frauen fordern politische Mündigkeit ein. Studenten werfen Pflastersteine gegen Notstandsgesetze. Und immer wieder rebelliert die Jugend.
Alle diese Ereignisse sind mit Eigennamen etikettiert, wie Luther oder Bonaparte, wie Benjamin Franklin oder Rosa Luxemburg. Ihre Souveränität dürfte unbestritten sein, aber sie wirken in der Gesamtheit dieser langfristigen Geschehnisse eher punktuell und genauso getrieben und geschoben wie alles andere, sodass man nicht umhinkommt, auch diese Ereignisse insgesamt als natürliche Vorgänge zu begreifen. Zum Beispiel wollte Napoleon nach dem Italienfeldzug Wissenschaft betreiben, am besten in Übersee. Stattdessen liess er sich zur Politik überreden.
Auch hat dieses Menschenbild Folgen für die Gesellschaft: Mit beschränkter Freiheit gerät die persönliche Verantwortung aufs Glatteis und mit ihr die dringende Möglichkeit, jemanden für sein Tun und Lassen haftbar zu machen. Das beunruhigt manche. So fällt mir auf, dass an Pädagogischen Hochschulen, wo Eigenverantwortung derzeit eine beinah inflationäre Rolle spielt, Befunde der Neurobiologie zur Bildung vor der Tür bleiben. Vielleicht erhalten sie Einlass, wenn unter Dozenten ein Generationenwechsel ansteht.
Das Problem liegt einerseits darin, dass wir von alters her unser Bewusstsein für überlegen halten. Ein Leben aus blossem Instinkt und Reflex verläuft erfolgreicher, wie wir es bei Bakterien an ihrer Fortpflanzungsrate im Sekundentakt ablesen können. Andererseits sagen wir fälschlicherweise, wir hätten ein Gehirn. Und in dem Gehirn, da gebe es Zonen wie das limbische System, die unserem Bewusstsein entzogen bleiben. Also hätte ich einen Limbus und ein Stammhirn. Das besitzanzeigende Prädikat ist jedoch falsch gesetzt. Denn was immer ich besitze, kann ich weggeben, zum Beispiel als Geschenk. Dabei muss es der Fall sein, dass ich unversehrt zurückbleibe. Wer eine Niere spendet, hat mit Nierenschwäche zu rechnen und daher mit erhöhten Homocysteinwerten im Blut, die eine Depression auslösen können.
Mein Limbus, mein Stammhirn sind immer da, wo ich gerade bin.
Man müsste sagen, ich bin mein Gehirn. Das wäre das zutreffende Prädikat, wir sind diese Redeweise bloss nicht gewohnt. Dabei wird sie uns nahegelegt, wenn wir nachfragen, wie wir uns vorgeburtlich entwickeln: Die befruchtete Eizelle, also die Zygote teilt sich wie bekannt in Stammzellen, die für sämtliche organischen Funktionen bereit sind. Welche Funktion es sein wird, ob die Zelle Knochengewebe ausbildet, zu Haut oder Hirn wird, oder zu Muskel oder Geschlecht, darüber entscheidet ihre Lage in der Gebärmutterschleimhaut. Die Spezialisierung beginnt, sobald die Zygote sich eingenistet hat. Jede organische Ausbildung, die darauffolgt, führt also zu jedem Zeitpunkt des Lebens auf Gewebe zurück, das für sämtliche Organfunktionen angelegt ist. Diese ungewisse Ganzheit besteht in jedem Organ ausgedünnt fort. Als Person stimme ich mit meiner königlichen Gehirnrinde genauso überein wie mit tieferem Gewebe. Mein Mittelhirn, mein limbisches System hätte also ebenso Grosshirn werden können wie umgekehrt. Das alles könnte man sagen, aber es ist mir keine Lesart dafür bekannt. Das Menschenbild, das Roth vorschlägt, wäre also damit zu ergänzen, dass die persönliche Identität auf das Unbewusste ausgedehnt wird.
Also: Ich bin soviel Schlaf in mir sowie Instinkt und Reflex, wie ich feudaler Herr meines Bewusstseins bin.
Das hat Folgen für die Rechtsprechung. Gerhard Roth thematisiert denn auch pathologische Fälle [Ebd. kp 8-9]. Bei der erweiterten Identität, wie ich sie zur Ergänzung vorschlage, verschärft sich sogar die Selbstverantwortung und damit die Haftbarkeit. Es würde dann jedoch keine einzelne Person zur Rechenschaft gezogen, sondern die Gesellschaft würde zweckmässig ermitteln, wie weit sie sich vor einem ganz bestimmten Bündel neuronaler Ereignisse in Gestalt einer Person vor Gericht zu schützen hat. In diesem organischen Menschenbild sind Freiraum und Bestimmung eben vermischt zu sehen.
Und das erscheint mir natürlicher als manches Menschenbild sonst.
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