Erzieher sind alarmiert. Ich fasziniert. Nicht nur der grandiosen Ästhetik wegen. Zweifellos für Heranwachsende ungeeignet addressiert die südkoreanische Serie «Squid Game» aus meiner Sicht eine Botschaft an Erwachsene, die mir unverzichtbar scheint. Die Gewalt sorgt für Quoten, spielt aber nur eine untergeordnete Rolle.
Die Serie hat innert Kürze eine reiche Deutungsarbeit losgetreten, die ich kaum überblicke. Womöglich steuere ich bereits Gesagtes dazu bei. Wer auf Überraschungen angewiesen ist, der sollte hier nicht weiterlesen. Mich persönlich kann man jederzeit spoilern, ich beschäftige mich gerne mit Filmen oder Serien erst dann, wenn ich alles überblicke. Die Überraschung, dass ein Sachverhalt auf einmal ganz anders erscheint, als bisher selbstverständlich war, begeistert mich hingegen in Philosophie und Wissenschaft. Konstruktivismus und Dekonstruktivismus wirken da Hand in Hand und sorgen für reichlich Überraschungen. Mathematiker entdecken spieltheoretische Zusammenhänge in «Squid Game». Auch Evolutionstheoretiker kommen auf ihre Kosten. So werden wir Zeuge eines Schubs kultureller Evolution in Echtzeit, als die Hauptperson Gi-hun beim Herausbrechen der Figuren aus den Zuckerplatten, den so genannten Dalgona-Biscuits, herausfindet, dass es schneller geht, wenn man die Nähte mit der Zunge beleckt. In der Not greifen andere diese Technik auf, sodass sich das Lecken unter den Spielern sofort ausbreitet. Soziologen wiederum tritt ein ganzes Gesellschaftsbild entgegen. Das kapitalistische, heisst es, aber auch das feudale, wie zu ergänzen ist. Diese Deutungen bieten eine ganze Reihe an Grössen der europäischen Geistesgeschichte auf: Marx, Nietzsche, Foucault. Man geht in die Knie. Nicht zuletzt auch vor dem Umstand, dass eine Serie, die derartige Rekorde bricht, auch intellektuelle Wirkung entfaltet.
Der kapitalistische Aspekt wird reichlich besprochen, der feudalistische weniger. Zu Corona gibt es immerhin zwei Verschwörungstheorien, die interessant sind, obgleich sie sich gegenseitig widerlegen. In beiden Fällen wird eine neue globale Oberschicht angenommen, die dank Finanztricksereien infolge weltweiter Liberalisierung immensen Reichtum scheffelt. Diese Tricks sind in der Tat sehr kunstlos: So wirft man faule Papiere auf den Markt und wettet mit hohen Summen auf ihren Absturz. Entweder diszipliniert diese neue Oberschicht uns dumpfe Massen mittels Corona durch Beschränkung freiheitlicher Grundrechte, die jede Massnahmenpolitik bei einer Seuche notwendig nach sich zieht. Oder, so die Gegentheorie, diese Oberschicht wird ihrerseits bekämpft, indem das Finanzwesen dank der Grossseuche in Schranken gewiesen, vielleicht umgebaut, vielleicht sogar abgeschafft wird. Das mag man für Humbug halten. Ernster wird die Sache, wenn man feststellt, dass auch vonseiten der Wissenschaft die feudale Schichtung einer Gesellschaft bestätigt wird, die wir für freiheitlich und demokratisch halten. Noam Chomsky unterscheidet eine dumpfe Masse als Basis, die von Spezialisten, seien es Politiker oder Wissenschaftler beeinflusst wird [Kp II d Einleitung]. In «Squid Game» lässt sich der Frontmann und seine Helfer mit der Schicht der Spezialisten gleichsetzen. Diese wiederum dienen, so Chomsky, einer Elite, die aus Eigentümern der Gesellschaft besteht. Den eigentlich Mächtigen also, denn Eigentum bestimmt die Macht in liberal-kapitalistischen Verhältnissen. Diese Elite tritt als «VIPS» in der Serie auf. Und zwar in barocken Lustverhältnissen, was ein Licht wirft auf die feudale Lesart der Serie.
Als der junge Polizeibeamte das Zimmer seines vermissten Bruders durchsucht, hält die Kamera zwar nur flüchtig auf ein Buch auf dem Schreibtisch, es handelt sich um die «Theorie der Begierde» von Jacques Lacan, jedoch wird die Übersetzung des Titels eingeblendet. Daraus lässt sich schliessen, dass diese Theorie für «Squid Game» von zentraler Bedeutung ist. Lacan weitet allgemein die Psychoanalyse auf den zwischenmenschlichen Umgang aus und schliesslich auf die ganze Gesellschaft. Zum Beispiel geht er Freuds Ödipus-Komplex systemisch an, indem er überlegt, was es mit dem Vater anstellt, wenn der Sohn diesen Komplex löst, indem er sich der väterlichen Autorität unterwirft. Es kann sein, dass seine Begierde nach Macht über andere im Vater dadurch erst recht geweckt wird. Bei Lacan spielt im Zusammenhang mit Begierde das Objekt a eine wesentliche Rolle. Damit wird kein bestimmter Gegenstand bezeichnet, auf den wir unser Verlangen richten. Das Objekt ist deshalb klein notiert, da es sich andauernd verschiebt, sobald wir eine Begierde gestillt haben. Wie immer wir uns sättigen, es ergeben sich weitere Begierden, die uns auf Trab halten. Objekt klein a findet seine Versinnbildlichung am ehsten in der Karotte, die dem Esel vor der Nase baumelt.
Begierden sind in «Squid Game» allgegenwärtig: Spielsucht und der riskante Handel mit Wertpapieren führten manche Spieler in Notlagen, was sie empfänglich machte für das Angebot, an einer Ausscheidung teilzunehmen, bei der Milliarden zu dem Preis in Aussicht stehen, dass getötet wird, wer ausscheidet. Auch Opfer von Machenschaften, die man aus Begierde verübt, finden sich unter den Spielern. So eine junge Frau aus Nordkorea, deren Geld von Schleppern veruntreut wurde. Auch ein pakistanischer Gastarbeiter wird von seinem Arbeitgeber über den Tisch gezogen, der Bestechungsgelder annimmt. Die Milliarden in der leuchtenden Kugel über den Köpfen der Spieler hält sie bei Laune. Immer wieder blicken sie begierig hoch, wenn der Tod eines Mitspielers die Kugel um einen bestimmten Betrag weiter anfüllt. Zuletzt erfahren wir, dass diese Spiele selbst aus reiner Begierde ausgerichtet werden. Und darin sehe ich die Botschaft, die uns «Squid Game» in Erinnerung ruft: Trotz ihrer Milliarden, die die VIP`s in die Lage bringen, jede Begierde zu stillen, sobald sie aufkeimt, leiden sie an einer Unzufriedenheit, die unstillbar bleibt. Das führt sogar dazu, dass der eigentliche Veranstalter aus Langeweile dem Reiz erliegt, an den Spielen selbst teilzunehmen. Natürlich freundet er sich mit der Hauptperson an. Also findet eine Redewendung ihre Bestätigung, nämlich dass Reichtum unglücklich macht.
Das Begehren erlischt nie, da wir Menschen zu einer Natur gehören, die zahllose Mittel nutzt, damit ihre Lebensformen Möglichkeitsräume auskundschaften und nutzbringend besetzen.
Klein a verdeutlicht also eher die unpersönliche Eigenart der Natur, mittels Begierden voranzukommen, die sich nie ganz stillen lassen. Würde man die Tötungen bei «Squid Game» weglassen, hätten wir das erstaunlich realistische Sittengemälde einer ganzen Gesellschaft vor uns.
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