Wie kann man gegen Meinungsfreiheit sein? Man kann. Dafür gibt es einen gewichtigen Grund, der sich in Zeiten von Corona bedrohlich abzeichnet. Ich teile dieses Argument nicht, sehe aber ein, dass es zu Sorge Anlass gibt.

Die Grossseuche tritt eine Vielzahl an Meinungen los, die sich freilich widersprechen. Zunächst sollte man das am besten als Beleg dafür nehmen, dass die Meinungsfreiheit intakt ist. Viele halten dieses Grundrecht jedoch für bedroht. Aber auch ihr Votum erbringt diesen Beleg. Notstandsrecht wie in Kriegszeiten hebt die Meinungsfreiheit auf. Es geht nicht an, dass jemand öffentlich Verständnis für den Gegner äussert. Der Grossseuche fehlt als Notstand diese Klarheit. Die besondere Verfügung der Exekutiven wechselt ab mit ihrer gesetzlichen Beglaubigung. Und die Meinungsfreiheit bleibt dabei intakt. Doch das Durcheinander, das daraus folgt, bereitet manchen Kopfzerbrechen. Der Aufruf der Aufklärung, wir sollen Argumente gewissenhaft prüfen, lässt sich kaum mehr einlösen. Denn in der heutigen Vernetzung wird Quellenkritik massiv erschwert. Wie können wir wissen, ob all die Vorannahmen sachlich zutreffen? Stattdessen, oder gerade deshalb ist ein Überzeugungskampf im Gange. Diese Überforderung liegt keineswegs an mangelnder Intelligenz der Menschen, obwohl das gerne bei Ausnahme seiner selbst sowie Anwesender verlautet wird. Es fällt denn auch leicht, eine Mehrheit als beschränkt abzukanzeln, die abwesend ist und daher kein Gesicht hat.

Wer immer die Idiotie der Massen beklagt, scheint mir mehr von sich selbst zu verraten als von dieser Mehrheit an Menschen, die er im Blick hat.

Meines Erachtens hat die Überforderung an der Meinungsvielfalt andere Gründe. Schliesslich bedürfen die einzelnen Argumente keiner besonderen Klugheit, sie einzusehen. Aber es zeichnet sich unter Leuten eine Erschöpfung ab, die der Alltagsökonomie geschuldet ist. Viele mögen nicht mehr, egal wie intelligent sie sind. Und auch dieser Umstand zählt zum natürlichen Verlauf einer Pandemie. Wer derart an widersprüchlichen Meinungen erschöpft, krallt sich früher oder später irgendwo fest. Wo das sein wird, bei welcher Einschätzung der Lage, darüber entscheidet kaum das Argument selbst, sondern eher das Leben, das die Person bis zur Pandemie geführt hat, mit all seinen Bedingungen und Verwerfungen.

Erschöpfte sind also drauf und dran, extremistisch zu werden.

Und darin findet sich die einzige Sorge gegen Meinungsfreiheit, die ich nachvollziehe, ohne sie gutzuheissen: Man möchte vermeiden, dass im Volk Extremismus um sich greift.

Denn Extremismus verkehrt sich irgendwann fast notwendig zu Faschismus.

Im Kleinen zeichnet sich das schon ab: Jemand eröffnet auf einer sozialen Plattform einen Chat mit dem Hinweis, die Behauptung sei eine Lüge, es gebe bedenkliche Folgen der Impfung gegen Corona. Eine andere Person liefert postwendend einen Kommentar, indem sie höflich von Verwandten und Freunden berichtet, die sich seit der Impfung gesundheitlich ernstlich beeinträchtigt fühlen. Dieser Kommentar wird genau so rasch wieder verborgen. Das wiederholt sich. Bei Nachfrage klärt die Urheberin, dies sei ihr Chat, also bestimme sie die Regeln. Mir persönlich wäre es unmöglich, einen Kommentar wegzuklicken, egal wie blödsinnig er daherkommt. Souveräne Ignoranz wäre hier gefragt. Oder ein Rückkommentar, der unaufgeregt die Sache zurechtlegt.

Bei diesem Verbergen unliebsamer Ansichten handelt es sich um Faschismus im Kleinen. Das meine ich sachlich, nicht etwa streitlustig: Wegklicken, verbergen, missachten, einschwärzen, herausstanzen. Diese Massnahmen decken sich im Grundsatz mit dem Faschismus im Grossen: Draufhauen, ausmerzen, vertilgen, ausrotten.

Diese Sorge mag berechtigt sein. Damit allerdings scheint mir noch nicht das letzte Wort gesprochen. Wenn es schon Mündigkeit geben soll, wie die Moderne sie vorsieht, dann beruht sie gewiss darauf, dass ich mir meine Meinung bilde und andere sich ihre Meinung bilden lasse. Wer sich eine Gesellschaft von Meinungsvielfalt bereinigt wünscht, muss daher die Frage erdulden, wie hörig er sich benimmt, dass er mit dieser Vielfalt nicht umzugehen versteht. Wie bei Kindern, die verwirrt sind, wenn ihre Eltern Anweisungen ausgeben, die aneinander vorbeilaufen. Wie unreif mutet das an, wenn Erwachsene von der Öffentlichkeit die gleiche Klarheit einfordern. Dieser Wunsch darf nicht auf Kosten anderer gehen. Es darf nicht sein, dass man viele mundtot macht, nur damit eine mehr oder weniger stattliche Mehrheit aufatmen darf.

Ich für mein Teil halte es auch hier mit der Natur. Also auch, was Meinungsvielfalt betrifft. Denn die Natur birgt schrille Widersprüche in sich, die alle lebendig sind. Sie kennt kaum Gleichschaltung, sondern radikale Vielfalt in vielerlei Hinsicht, als würde sie sich für alle erdenklichen Möglichkeiten bereithalten wollen.

Also bedeutet Meinungsvielfalt, trotz aller Widersprüche oder genau ihretwegen, etwas schlicht Natürliches.