Brad Pitt wurde daraufhin befragt, wie er die Absage einer Rolle verkraftet habe, die sich später als Kassenschlager erwies. Der Schauspieler stellt ohne Reue und Hader klar, er glaube eben daran, wie die Dinge sich entwickeln. Das Interview findet sich irgendwo auf Movie-Pilot. Brad Pitts Einstellung ist ganz auf mich zugeschnitten, auch wenn ich anerkennen muss, dass sie buddhistisch sein soll. Zum Nachdenken regt sie alleweil an. Denn die persönliche Freiheit scheint von Grund auf in Frage gestellt, wenn man einfach hinnimmt, wie sich die Dinge entwickeln. Das sieht auf den zweiten Blick jedoch anders aus.
Derzeit erheben sich Stimmen, was gesellschaftsweit nach der Corona-Krise unbedingt zu verbessern sei. Ganze Thinktanks ziehen Lehren daraus. Wir glauben an planmässige Machbarkeit. Dass sich die Dinge irgendwie entwickeln sollen, finden wir unbehaglich. Da fehlt ein umfassendes Vertrauen. Aber es ist der Inbegriff von Selbstverantwortung, die der Freiheit im modernen Sinn zugrunde liegt: Die Sachlage durchleuchten und Verbesserungen errechnen, die das Leben aller voranbringen. Solche Verbesserungen richten sich in die Zukunft.
Daher können sie nur linear sein. Also eindimensional.
Wer eine Massnahme zur Verbesserung als die endgültig Richtige anpreist, hat in Rechnung zu stellen, dass die Verhältnisse sich bereits wieder verändert haben. Somit ist die endgültig richtige Massnahme schon wieder fraglich geworden. Jeder Eingriff in die Verhältnisse der Dinge mag sehr wohl aus selbstverantwortlicher Freiheit, sprich nach bestem Wissen und Gewissen erfolgen, er bleibt nur eine Kraft unter mehreren Kräften, die an einem ganzen Gewebe von Bedingungen ansetzen. Entscheidend ist:
Die Lehre der Mechanik zeigt, dass die Stossrichtung, die ein Gemeinwesen einschlägt, eine Art Summe oder Kompromiss aller Kräfte darstellt, die am Werk sind.
Das prominente Beispiel der Französischen Revolution zeigt, dass sie weder früher noch später hätte passieren können. Einem Voltaire war es vergönnt, eines Tages auf die Strasse zu treten und zu einer Revolution aufzurufen. Höchstens ein paar Spinner wären mit ihm zuletzt in Ketten zur Vierteilung angetreten. Es brauchte mehr Kräfte im mechanischen Zusammenspiel, um die Revolution auszulösen: Die langjährige Ausbeutung durch das Ancien Régime, das Gedankengut der Aufklärung, das wirtschaftliche Selbstbewusstsein des Bürgertums, ein Vulkanausbruch und mehrjährige Missernten, die darauffolgten.
Die Ansicht Brad Pitts verneint also keineswegs die persönliche Freiheit. Ihre Aufmerksamkeit richtet sich hingegen darauf, dass zahllose Freiheiten zeitgleich am Werk sind. Nebst anderen Kräften, eben den Bedingungen wie eine Unwetterkatastrophe, die niemand unter Kontrolle hat. So bewirken sie gemeinsam eine Stossrichtung. Mit `Dingen` dürfte Brad Pitt das gesamte Gewebe an Bedingungen und selbstverantwortlichen Kräften meinen, das sich als Gesellschaft übersetzen lässt.
Oder schlechterdings als Leben, soweit es uns Menschen angeht.
Wenn eine solche Kraft sich nur halbwegs durchsetzt oder gar nicht oder eben bloss als kaum merklicher Beitrag zur allgemeinen Stossrichtung, so sind wir es gewohnt, dies als persönliches Versagen zu werten. In dieser masslosen Erwartung findet sich die Überheblichkeit des modernen Menschen. Aus gutem Grund verfällt er deshalb einer Schwermut, die wir als Depression ansprechen. Dabei wird verkannt, dass niemand in der Lage ist, vorauszuberechnen, welche Stossrichtung dieses Gewebe an Kräften und Bedingungen irgendwann einschlagen wird. Auch Neuronen bewirken nie im Alleingang einen Entscheid im Gehirn. Vielmehr ist es der Fall, dass sie erst unterschiedlich feuern, doch mit der Zeit bildet sich ein Muster heraus, indem immer mehr Neuronen im Gleichklang feuern. Auch Bienenvölker, die im Geäst eines Baumes rasten, finden so zu einem Entscheid, wohin sie am besten fliegen, indem Kundschafterinnen ausschwärmen und nach ihrer Rückkehr von geeigneten Nistplätzen berichten. Zu Beginn herrscht Uneinigkeit, doch mit der Zeit wird ein bestimmter Ort von immer mehr Kundschafterinnen bevorzugt. Irgendwann zeichnet sich eine Mehrheit ab, das Bienengesumse kippt um in einen Entscheid. Die Arbeiterinnen wecken schlafende Bienen, und der Schwarm bricht auf.
Neuronen und Bienen funktionieren gleich. Nämlich demokratisch. Ein Schwarm Bienen an einem Baum ist als offenes Gehirn zu verstehen.
Nur Fantasy-Autoren und Verschwörungstheoretiker muten einer erlesenen Gruppe die Möglichkeit zu, ein gesamtes Gewebe an Kräften und Bedingungen so zu durchschauen, dass sie zielsicher und heimlich darauf Einfluss nimmt. Ich persönliche sehe darin eine blanke Überschätzung menschlicher Fähigkeiten.
Warum bilden wir uns so viel auf unsere selbstverantwortliche Freiheit ein, dass wir in Schwermut versinken, wenn sie misslingt? Auch wenn wir uns gewissenhaft darum bemühen, eine Sachlage so zu verstehen, dass ein vernünftiger Entscheid möglich wird, so wissen wir trotzdem niemals, ob wir über alle Kenntnisse verfügen, die für diesen Entscheid unabdingbar wären. Irgendwann finden wir, es sei jetzt genug analysiert und nachgefragt. Nun gilt es zu handeln. Das entscheiden wir nicht aus Vernunft.
Sondern aus Gewohnheit. Aus einer Ökonomie des Alltags heraus.
Umgekehrt ergehen wir uns in triumphalem Gejaule, wenn ein Eingriff, den wir verantworten, die Stossrichtung wesentlich bestimmt. Dein Triumph, so korrigiert uns der Buddhist, aber auch dein Versagen beruhen auf Zufall. Denn du kannst unmöglich vorweg wissen, dass dein Einfluss mit der Stossrichtung übereinstimmt, in der sich die Dinge entwickeln werden.
Ob Triumph oder Niederlage, für beides sollten wir ein Lächeln übrighaben.
Ein buddhistisches.
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