Sei tapfer! Das klingt heute eher altmodisch. Ein Harnleiterstein quälte mich vom Arbeitsplatz bis zur Notaufnahme. Keine ganze Stunde zwar, aber immerhin. Ein Freund fragte mich, wie es mir gelungen sei, tapfer zu sein. Zunächst fiel mir keine Antwort ein. Später gleich mehrere.

Montaigne, der Ur-Blogger schlechthin, litt an Nierenkoliken, aber zu seiner Zeit gab es keine Schmerzmittel. Daher war meine erste Antwort folgende: Ich konnte während der Autofahrt ins Spital tapfer sein, da ich um die hohe Wirksamkeit der Medikamente wusste, die ich bald verabreicht bekommen würde. Und das ist auch der Hauptgrund zu meiner Tapferkeit! Noch in der bürokratischen Schleuse, als ich gekrümmt dastand und meinen Kassenausweis hervorkramte, meinte ein Arzt zu einem Kollegen, Schmerz habe Vorrang. Montaigne musste zu Pferd die Schweiz und halb Italien nach Heilbädern abreisen, um sich Linderung zu verschaffen. Keine Ahnung, wie ich das bewältigt hätte. Im Vergleich zu damals leben wir in einer Palliativ-Gesellschaft, die bei jedem Wehwehchen Abhilfe schafft. Daher gilt mein Dank dem Spitalbetrieb und seiner hochnormierten Funktionsweise, die rund um die Uhr im Sekundentakt abläuft. Demnach verdanke ich rasche Linderung allen Berufstätigen, die diesen Betrieb, wenn auch auf gesetzliche Verordnung hin, durch monatliche Zahlungen am Leben erhalten. Ferner geht mein Dank an die Pharmazeutik, so sehr sie in der Kritik stehen mag, gerade in diesen Tagen. Dieser Dank umfasst ökonomische und buchhalterische Tricksereien, die in solchen Grossbetrieben gang und gäbe sind, ebenso die politische Öffentlichkeitsarbeit, die dort geleistet wird, sowie die mehrfache Verletzung und Tötung von Tieren in den Laboren. Ein Geistlicher, der an Blutkrebs im Endstadium litt, meinte sogar, die Schmerzmittel bedeuteten für ihn eine Gnade. Es gebe Schmerzen, bei denen keine Tapferkeit möglich sei.

Sie entgrenzten schlechterdings das Menschenmögliche.

Frauen, die über den Vergleich verfügen, werten die Kolik schmerzhafter als Schmerzen bei Wehen. Das ehrt mich zweifelsohne. Auf dem Weg ins Krankenhaus, ebenso im Anschluss an die Diagnose, die mir mindestens zwei Tage Spital aufbrummte, kam ich nie ins Hadern. Die verzweifelte Frage, warum gerade ich, warum gerade jetzt, blieb stumm. Nach einem kurzen Schock war ich in der Lage, die Dinge hinzunehmen, die auf mich zukamen. Aber wieso gelang mir das? In der Regel verstärken die Menschen ihr Leiden, indem sie ihre schwierige Lage mit Situationen vergleichen, die sie brennend vermissen.

Wir sind ausserstande, zu vergessen, dass es vormals besser war.

Vielleicht sind Tiere nur deshalb befähigt, solche Marter auszustehen, da die Vergleichsarbeit, die dazu nötig ist, bei ihnen gar nicht erst in Gang kommt. Was jedoch meinen Hader in Zaum hielt, ist schwierig darzulegen. Da muss ich etwas ausholen: Bei aller Bekenntnis zur Moderne ist leider einzusehen, dass religiöse Menschen gelassener leiden als wir. Diesen Menschen fällt es leichter, tapfer zu sein. Das liegt daran, dass sie ihr ganzes Leben und somit auch den Schmerz, der ihnen widerfährt, in einem grösseren, sinnvollen Ganzen eingeordnet sehen. Also gehören sie selbst dazu.

Und auch ihr Schmerz.

Dabei spielt keine Rolle, dass dieses Ganze wohl unbestätigt bleibt, sei es die Ordnung des Karmaglaubens, sei es die Schöpfungslehre jüdischer, christlicher oder islamischer Ausprägung. Der Glaube daran genügt. Daher galt Tapferkeit früher als Kardinaltugend. Sie gelingt nur, wenn wir uns übergeordneten Werten verpflichtet fühlen. Diese Werte bieten uns Bezugspunkte jenseits aller denkbaren Horizonte. Tatsächlich dienen sie dem Erhalt eines Gemeinwesens: Die Familie, die Sippe, das Volk, die Kirche als Einheit aller Lebenden und Toten. Wir verhalten uns immer tapfer für andere: Jemand besteht in Kriegsgefangenschaft, da er zu den Seinen zurückkehren will. Jemand erduldet Folter, um andere zu schützen. Patrioten ziehen in den Krieg. Beherzt stehen sie alle möglichen Strapazen durch. Aus dem Frühchristentum sowie aus der Geschichte der Mission sind schlimmste Tötungen überliefert, die tapfer bestanden wurden. Eine Frau betet vor der Gottesmutter, die sieben Schwerter in der Brust stecken hat. Das Bild lindert ihre täglichen Belastungen, und das kommt auch ihrer Familie zugute.

Die Moderne bietet keine vergleichbare Orientierung, diese gehört nicht zu ihrem Programm. Kritik ist ihr Antrieb. Die priesterliche Autorität hat sich erledigt. Daraus folgt, dass Negatives die Welt anfüllt, wo immer wir Kritik ansetzen: Die Versorgungsgesellschaft verhält sich zunehmend ausbeuterisch, die Amerikaner sind Staatsterroristen, die Russen ohnehin, China versklavt seine Bürger, die Menschheit verwahrlost in ihrer Gier nach Besitz und Macht, die Umwelt ist verschmutzt, das Klima kippt, wir sind von Süchtigen und Spinnern umgeben. Das Ganze, das uns bei aller Kritik als Bezugspunkt noch bleibt, damit wir einen Schmerz tapfer ertragen könnten, wird dadurch sehr klein und schutzbedürftig. Die persönliche, schmerzgepeinigte Einsamkeit dehnt sich auf diesen mickrigen Rest an Ganzheit aus. Das bringt keine Linderung mehr. Im Gegenteil. Die moderne Auffassung von persönlicher Freiheit sieht uns abgekoppelt von sonstigen Einflüssen des Lebens.

Das bedeutet Einsamkeit auch im Schmerz. Einsamkeit verstärkt ihn sogar. Und zwar erheblich.

Sofern das Ganze eine Einheit bilden soll, so gehört alles Negative dazu. Allerdings hat noch keine Religion es geschafft, das Negative als Teil des Ganzen zu vermitteln. Im Gegenteil: Es gehört davon ausgegrenzt. Die Moderne hat dazu auch nichts zu bieten. Auch aus ihrer Sicht stört das Negative, also gehört es bereinigt. Vielleicht sind wir in dieser Sache bislang rückständig geblieben. Daher erneut die Frage: Wie konnte ich tapfer sein? Das eigentliche Ganze, das uns bleibt, ist das Leben selbst als kosmische Erscheinung. Wenn ich mich darauf beziehe, erfülle ich keine Religion im herkömmlichen Sinn. Denn wir sind ausserstande, das Leben anzubeten, da wir selbst Leben sind. Daher ist auch keine priesterliche Vermittlung möglich, die eigene Erfahrung und die Erfahrung anderer genügt.

Deshalb habe ich mir in Hinsicht auf ein gutes Sterben angewöhnt, mit dem Leben zu gehen. Die Verzweigungen, die meinen bisherigen Weg ausmachen, habe ich weniger am Steuer bewältigt.

Sondern eher als Treibgut in der Strömung.

Dabei geht es weniger darum, ob dieses Sinnbild buchstäblich zutrifft. Dann würde es sich bei mir um eine buddhistische Gleichmütigkeit handeln. Das Sinnbild des Treibgutes soll vielmehr ein Gefühl verdeutlichen, das mir es erleichtert, mit dem Leben zu gehen. Besser eignet sich das Bild eines Flussschmwimmers. Demnach bewege ich mich sehr wohl innerhalb der Strömung, aber die Strömung selbst bleibt meiner Kontrolle entzogen. Sie führt mich in seichte Stellen, wo ich dahindümple, oder sie zieht mich fort, macht mich zum flinken Taucher mit geschärftem Blick.

Der Flussschwimmer versinnbildlicht ideal das Zusammenspiel von Freiheit und Unfreiheit.

Dazu kommt: Sein Blick richtet sich stets nach vorn. Das Vergangene wird zwar erinnert, sofern Bedarf besteht, aber es taugt nicht zum Vergleich mit der jeweils veränderten Gegenwart. Selbst dann, wenn diese hereinbricht, wie etwa beim Harnstein, als er sich löste und in den dünnen, kaum biegsamen Harnleiter eindrang. Ich gehe davon aus, dass die Niederlagen meines bisherigen Lebens, aber auch meine Triumphe nicht ausschliesslich auf mein Konto gehen. Es sind immer Einflüsse im Spiel, die insgesamt das Leben ausmachen, mein so genannt freies Vorgehen miteingerechnet.

So erlebe ich das grosse Ganze in all dem Kleinen, mit dem ich zu tun habe. Mitunter in mir oder als mich selbst.

Das Leben nämlich, das ohne unser Dazutun entstand. Das als planetarischer Schaum Entwicklungen durchläuft, die wir im Grundsatz weder planen, noch unter Kontrolle bringen.

Diese Entwicklungen vollziehen sich an uns in Freude und Schmerz.