Ein Schüler holte Meinungen ein, ob man ihm rate, ein Kunststipendium für ein Zwischenjahr in New York anzunehmen oder die Ausbildung zum Grundschullehrer erst unter Dach und Fach zu bringen. Dummerweise bekam der Jugendliche alles Mögliche zu hören. Kluge Argumente häuften sich auf beiden Seiten. Seine Lage blieb so unklar wie zu Beginn. Auch ich liess ihn hilflos zurück. Aber mir ging bei der Sache ein Licht auf.

Die meist gehörte Aussage machte ihm auch am meisten zu schaffen. Nämlich: Das müsse er letztendlich selber wissen. Diese Einstellung ist zu einem Bonmot verkommen. Im Verkehr mit Anderen zeichnen wir uns als besonders tolerant aus, wenn wir es benutzen. Heute klingt es einfach chic. Dabei betont es die Verantwortung, die jeder freien Entscheidung anhaftet. Das zeigt sich bereits an der wörtlich genannten Modalität des Müssens. Verantwortung in dem Sinne, dass ich auf die Folgen meines Entscheidens Antwort zu geben habe.

Und dass ich mit diesem Ja, das ich einer Möglichkeit anhefte, wenn ich mich entscheide, zeitgleich alles Übrige verneine. Für diese Einsicht war lange Zeit kein systemisches Denken nötig.

Die freie Entscheidung sperrt mich also eher ab von der Welt. Vorerst zumindest.

Das Anliegen, aus dem das Bonmot vom Selber-Wissen-Müssen hervorgegangen ist, liegt in einer Vergangenheit geschichtet, da die Leute noch vor persönlicher Autorität in die Knie gingen. Konservative halten das auch heute für die richtige soziale Ordnung. Einzelne sind gleicher als andere, die Primi inter Pares. Man lobhudelt sie als Führer zurecht und unterwirft sich dann ihrer Leitung. Andere sehen in dem Umstand, dass wir uns nach Autoritäten richten, bloss Missbrauch und tückische Einflussnahme. Diese Kritik hat einen klaren Grund:

Mit Hörigen lässt sich Weltkriege führen.

Vaterländisch aufrecht lassen sich ganze Massen zu Kanonenfutter einstampfen. Beide Ansichten, entweder für Ordnung durch Autorität oder dagegen, führen Gründe auf, die ernstzunehmend sind. Jedoch fordert uns die Moderne klarerweise dazu auf , dass wir eigenmächtig um unsere persönliche Mündigkeit bekümmert sind, damit kein anderer uns so einpasst, wie es ihm notwendig erscheint. Die Bildungsreformen der letzten Jahre nahmen sich eben dieses Anliegen derart zu Herzen, dass überall Selbstbestimmung, Selbstverantwortung, Eigeninitiative und Selbstorganisation gefragt sind. Um so mehr fällt auf, dass der Jugendliche, der im Umfeld solcher Reformen gross geworden ist, der also schon zig Tabellen und Listen zur Selbstorganisation abgearbeitet hat, auf Anweisung wohlgemerkt, dass er für diesen Entscheid, der doch folgenreicher ist, die Meinung von anderen Menschen, sprich von Autoritäten einholt. Und dass er dafür den ersten Schritt macht, bringt ihn zu diesen Autoritäten beinah auf Augenhöhe. Besonders deshalb, da er gezielt und eigenmächtig das Gefälle an Lebenserfahrung sucht, das zwischen ihm und den Autoritäten besteht. Meine Antwort war in etwa die folgende:

Ganz gleich, wie immer du dich entscheidest, es wird in jedem Fall Augenblicke geben, in denen du deinen Entscheid feiern oder aber bereuen wirst. Und du wirst nie wissen, ob diese Gewissheit, die triumphale wie die depressive, abschliessende Gültigkeit haben wird.

Zweifel kehren immer wieder, früher oder später.

Wer ein ganzes Leben unbehelligt von Zweifeln führt, geniesst eine Gunst, die rar gesät ist. Sie lässt sich unmöglich verallgemeinern. Irgendwann wird einem das Hin und Her zu viel, und man wird, da endloses Überlegen offensichtlich keine Klarheit bringt, das Leben so spielen lassen, dass es die Weichen stellt, die man dann einfach zulässt.

Das wäre dann eine Art Mündigkeit im Verborgenen.

Ein Tänzer im Dunklen.

Eine Kultur des Lassens.

Nach meiner Beratung hätte der Jugendliche einfach das Los werfen können. Das stimmte ihn missmutig, allerdings verliess er mich vergnügt. Eine gewisse Leichtigkeit erhellte seinen Schritt. Denn mindestens eine Last habe ich ihm abgenommen:

Nämlich den hybriden Anspruch, dass er nicht nur gut entscheidet, sondern die Entscheidung seines Lebens trifft.

Mündig sich entscheiden bedeutet die Laufrichtung der Moderne. Die Erwartung jedoch, dass man den bestmöglichen Entschluss fasst, wird damit gar nicht angesprochen. Sie stellt ein Glücksfall dar, der genauso auf Zufällen beruht, wenn man die Sachlage einer bestimmten persönlichen Entscheidungsfindung genauer unter die Lupe nimmt.

An diesem nervösen Anspruch auf das Bestmögliche erschöpft die Moderne.

Folgende Einstellung wäre, auf den Punkt gebracht, viel einfacher und um kein Haar weniger mündig: Wie immer wir uns entscheiden, wir werden auf jeden Fall nützliche Erfahrungen machen.