Die Mutter bekam die Behörde an den Hals gehetzt. Im Auftrag einer Halbschwester. Sie könne nicht mehr zusehen, wie ihr Neffe verwahrlose. Die Behörde entschied zugunsten der Mutter, aber das hätte bei dem ausgeprägten Föderalismus, der hierzulande eingerichtet ist, auch komplett anders ausgehen können. Die Aufregung hätte man sich sparen können, wenn man genauer hingesehen hätte, statt nur Formfehler zu vermeiden. Und ein bisschen mehr Vertrauen ins Leben wäre dazu erforderlich gewesen.
Das Amt kam zu seinem Entschluss dank eines Gutachtens, das der Frau bescheinigte, sie verfüge durchaus über zuverlässige Muttergefühle. Eine schiere Beleidigung für eine Frau, die geboren hat. Zu jener Zeit ging ich dort aus und ein, denn ich betreute das Kind bei den Hausaufgaben. Der Haushalt spottete aller Norm: Jedes Mal stapelte sich Geschirr in der Spüle, im ganzen Haus waren Lesebrillen verteilt, ebenso Gerümpel auf der Terrasse und im Garten, die Möbel waren eingetrübt von Haaren eines Zwergpinschers, der vom Lecken und Saugen nie richtig entwöhnt worden war, im Bad verbreiteten stets feuchte Tücher einen Moderduft. Meine Versuche, die Mutter an den Computer zu gewöhnen, schlugen beharrlich fehl. Ihre Angst, die einfachsten Dinge nicht im Griff zu behalten, machte sie oft panisch. In ihrer Verwandtschaft kursierte die bittere Meinung, sie weigere sich, diese Fertigkeit am Bildschirm zu erlernen, die heute selbstverständlich dem persönlichen Humankapital zugerechnet wird. Aus nur einem Grund: So bleibe ihr Invalidenstatus gesichert und damit die nötige Rente zu einem Leben ohne Arbeit.
Menschen sehen sich oft aus nächster Nähe missverstanden.
Schon beim ersten Besuch zeigte sich mir eine Szenerie, die mir jede Sorge um das Kind aus dem Kopf schlug: Seine Fahrzeuge zum Spielen, die Kriegsflotten, Lastenschlepper, Campers mit Familie und Zubehör, die Polizeiwagen und Ambulanzen hatte der Bub in der Stube beim Sofa am Boden inmitten all der Unordnung peinlich genau in Reih und Glied geparkt, sodass sie eine straffe Linie bildeten. Die Fahrzeuge waren allesamt gleich ausgerichtet, ich hätte an ihren Schnauzen eine Messlatte ansetzen können. Die amtliche Sorge lag fehl. Sie hätte anders lauten müssen:
Nicht die Verwahrlosung des Kindes stand zu befürchten, sondern seine kleinkarierte Akribie.
Und das machte mich schmunzeln: Der Kleine glich die chaotischen Zustände seiner Mutter gewissenhaft aus. Er sorgte ganz leise für sich um ein Gegengewicht.
Nicht nur Organismen sind damit beschäftigt, die natürlichen Verhältnisse in der Balance zu halten. In meinem Körper sind zahllose Vorgänge wirksam, die allesamt Ausgleich schaffen. Auch die so genannte kulturelle Evolution ist davon betroffen: Kulturen gleichen einander aus. Ganz besonders dann, wenn sie verfeindet sind.
Dieses Ausgleichen würde ich ohne zu zögern ein Gesetz des Lebens nennen.
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