Der Westen hält viel auf seine Überlegenheit. Die Massstäbe, nach denen er das bemisst, liefert er gleich mit. Ein Selbstlob also. Aufklärung durch Vernunft, heisst das Motto des Westens. Im Umgang mit China oder Russland ist davon aber gar nichts zu spüren.

Wenig Aufklärung ist im Spiel, wenn Ai Weiweis Hausbank, wohlgemerkt eine schweizerische, sein Konto schliesst, da ihr Algorithmus verurteilte Verbrecher unter ihren Kunden nicht von Personen zu unterscheiden vermag, die aus politischen Gründen unter Zwang Nacherziehung erlitten haben. Im Falle Ai Weiweis liegt nicht einmal eine Verurteilung vor. Wären es Bankbeamte, die das entschieden hätten, müsste man ihnen schiere Blödheit bescheinigen. Oder Gleichgültigkeit, jedoch widerspräche beides den Grundsätzen der Aufklärung. Ein Algorithmus, also eine Mechanik bestimmt, wie es läuft. Voltaire würde Schreikrämpfe erleiden. Naheliegender dürfte eine Repressalie vonseiten Chinas sein, dass sie Geschäfte mit dieser Bank stornieren, solange sie Ai Weiweis Stiftungsgelder hortet.

Putin verhält sich nach unserem Dafürhalten geschmacklos, wenn er andauernd die Verfassung so anpasst, dass er als Ministerpräsident oder als Staatsoberhaupt zeitlebens amtiert. Wir halten ihn für machtgierig. Da wir unserer Sache als der besseren so sicher sind, verwundern wir uns darüber, dass er die Ausdehnung der NATO nach Russland bekämpft. Das gilt für uns schon als Beleg seiner Durchtriebenheit. Offensichtlich will es einfach nicht in unseren Kopf, in diesen Sitz und Hort aller Aufklärung, dass viele Russen die Ausdehnung der NATO als Bedrohung erachten.

Ausserdem wurde durch diese Erweiterung eine Vereinbarung gebrochen: Gorbatschov hatte der Wiedervereinigung Deutschlands nur unter der Bedingung zugestimmt, dass die NATO am ehemaligen Eisernen Vorhang stillhält. Regelbrüche sind Putin sämtliche als Zeichen seiner Rückständigkeit anzulasten.

Wir aber brechen sie sachlich und vernünftig.

Schliesslich stehen wir für die bessere Sache ein. Ebenso geht es einfach nicht in diesen Kopf, dass auch China den Pakt zwischen USA, England und Australien in Sachen atombetriebener U-Boote als unmittelbare Gefahr begreift. Eigentlich müsste die Verstandesleistung, die uns die Aufklärung anempfiehlt, zu genau dieser Schlussfolgerung führen. Was uns bedroht, erkennen wir sofort. Aber dass wir unsererseits als Bedrohung erscheinen, unterliegt einer rätselhaften Blindheit. Mit wenig Überlegung wäre sie mit Händen zu greifen. Und die Aufklärung als Kerngehalt westlicher Kultur ist angetreten, um genau solche Blindheit zu bekämpfen. Diese Erleuchtung bleibt vorderhand noch aus. Da mag man noch so sehr das Auge der Vernunft über irgendwelchen Pyramiden erstrahlen lassen. Das Gerede von der Aufklärung bleibt ein Witz, wenn uns die Einsicht in unsere Gefährlichkeit für Andere misslingt. Diese Einsicht bleibt uns verwehrt, solange wir der Überzeugung sind, wir gehörten schliesslich zu den Richtigen.

Und wer zu den Richtigen gehört, dem sind alle Mittel erlaubt.

Das gilt eben auch für Putin und bestimmte Teile der russischen Gesellschaft, die mitansehen mussten, wie westliche Ratgeber Mütterchen Russland in den 90er-Jahren nach dem Fall der Sowjetunion über den Tisch zogen und ausweideten. Eine Amerikanerin stellte sich anlässlich 9/11 die Frage, warum sie so gehasst würden. Eigentlich plamabel, dass sie sich diese Antwort nicht selbst geben kann. Dafür sollte sie etwa ihrem Landsmann Noam Chomsky genauer zuhören, wenn er die Interventionsgeschichte der USA seit Kuba erörtert.

Denn da zeigt sich: Den Richtigen sind alle Mittel erlaubt.

Ein Grundsatz, der bis weit vor die Aufklärung zurückreicht. Er hat mit ihr rein gar nichts zu tun. Für den Moment, da jemand nach eigenem Ermessen erklärt, zu den Richtigen zu gehören, hält die Aufklärung einen passgenauen Ausdruck bereit:

Sie nennt das Chauvinismus.

Das gilt für den Westen genauso wie für Eingeborenenstämme, die sich selbst als Edle bezeichnen, während sie gegnerische Gruppen als Tiere oder Stotterer aburteilen. Eine aufgeklärte Politik müsste anders lauten, nicht nur gegenüber China und Russland. Zum Beispiel so: Jedes menschliche Gemeinwesen nimmt Gründe ernst, die mit der Umwelt zu tun haben, in der diese Kultur ansässig ist. Und da diese Gründe mit einer Umwelt zu tun haben, so haben sie zwingend mit der ganzen Welt zu tun, in der wir alle zeitgleich leben.

Ausserdem: Wer Gründe ernst nimmt, und das tun wir alle, der erfindet diese Gründe nicht.

Und eben dies sollte auffallen: Die Vernunft verlangt einen Spiegel in der fremden Wahrnehmung, auch damit sie sich über sich selbst klar wird. So zeigt sich: Was für uns aus Sorge passieren muss, macht genau das Potential aus, das Andere bedroht.

Zum Beispiel wenn befürchtet wird, der Gegner könnte sich zu einer Flucht nach vorn genötigt sehen. Die Politik der Sorge zu sich selbst durch Bedrohung anderer, wirkt wenig aufgeklärt, sondern sehr, sehr natürlich.

Daher steht zu vermuten, dass dieser Chauvinismus, der überall seit je herrscht, seine natürliche Funktion wie Vieles andere im blossen Überleben hat.