Die heutigen Elterngespräche sind zur Formsache geworden. Es herrscht Höflichkeit, damit alle Beteiligten überleben. Bloss keine Fehler begehen. Ist die Situation unproblematisch, liegt sogar ein Witz drin. Diese Verkrampfung lässt sich gesamtgesellschaftlich beobachten. Vor Jahren war das anders: Anno 1992 endete eines dieser Gespräche damit, dass sich die Eltern gegenseitig ein Vampirgebiss in den Mund schoben.
Wie kam es so weit? Darüber lässt sich nur mutmassen. Angeblich spielt 9/11 eine Rolle, die Verunsicherung danach, gepaart mit einer Liberalisierung, die paradoxerweise Beruf und Bildung bis in die feinsten Einzelheiten reguliert. Das ergibt eine allgemeine Nervosität, die dazu führt, dass man rasch Schuldige nötig hat. Und so zieht man einander fleissiger als früher vor Gericht. Ein langjähriger Versicherungsberater meinte, das Meiste, was er seit Langem abschliesse, seien Rechtsschutzversicherungen. Ähnliches geschieht in der Schule: Bricht sich ein Kind das Bein beim Skifahren, hiess es früher vonseiten der Elternschaft, dieses Risiko bestehe eben bei solchen Unternehmungen. Heute wird sogleich die Anwaltschaft bemüht.
Damals also bestand die Möglichkeit, dass die Lehrkraft für die Standortgespräche Hausbesuche anbot. Niemand zog den Gang ins Schulzimmer vor. So erhielt ich Einblick in Dutzende von Haushalten, was allein Stoff für ebenso viele Blox ergäbe. Ich hatte nur Notizen dabei. Kein Protokoll, keine Unterschrift, kein Fragebogen vorweg, es gab keinen Leitfaden. Heutige Elterngespräche beginnen notorisch mit der Selbsteinschätzung des Kindes. Eine fürchterliche Anmassung, die den Befunden der Entwicklungspsychologie zuwiderläuft. Dabei wurde hierzulande demokratisch entschieden, dass sich der Lehrberuf nach wissenschaftlichen Standards auszurichten hat. Bis zur so genannten Pubertät keimt die Reflexionsfähigkeit auf Metaebene, also auf der Beobachtungsebene zweiter Stufe erst dann, wenn sich die Kinder mit Gleichalterigen vergleichen. Alles andere an Metareflexion ist für Menschen in diesem Alter kaum zu bewältigen. Im Gespräch nun, wo das Kind zur Eröffnung sich selbst einschätzen soll, schweigt es betroffen. Die Lehrkraft, ihrerseits peinlich berührt, übertüncht diese Stille, indem sie dem Kind Angebote macht. Und es nickt irgendwann, damit die Peinlichkeit vorüber ist.
Seine angebliche Selbsteinschätzung gestaltet sich dann so, dass man dem Kind Worte in den Mund legt.
Nicht so damals. Bei einem dieser Gespräche, das mir in bester Erinnerung geblieben ist, starteten wir in der Küche bei Kaffee und belegten Broten. Der Vater, ein Lastwagenfahrer, lachte, er karre Teigwaren durchs Land, das sei eine krisensichere Arbeit, denn damals herrschte Rezession. Die Tochter wollte das Gespräch rasch hinter sich bringen, schliesslich würde die Turnriege bald beginnen. Für eine Empfehlung in die Sekundarstufe bräuchte sie Nachhilfe in Mathematik, ich stellte Lernmaterial vor, das ich mitgebracht hatte, Profax und Anderes, man zeigte sich zufrieden damit, fand sogar ein günstiges Zeitfenster zum Üben. Mein Hinweis, es könnte für die Tochter eng werden, stiftete keinerlei Unbehagen. Die Sache war also innert Minuten bereinigt, und die Kleine sprengte aus dem Haus.
Dann gab es Kaffee und Kuchen und etwas Portwein, nun allerdings in der Stube. Das Thema Schule war für die folgenden Stunden, die ich dort zubrachte, bereits abgehakt. Irgendwann verrieten die Eltern, sie hätten noch eine Bar im Haus. In der Annahme, sie würden ein Schränkchen öffnen, sagte ich begeistert zu. Doch es ging in ein weiteres Zimmer nebenan, wo ich mich an eine richtige Bar zu setzen hatte. Die Eltern bezogen dahinter Position, um mich mit Zigarre und Schnaps zu bewirten. Inmitten von Geplauder und Gelächter fand die Mutter in der Bar eine alte Tischbombe. Wir jubelten, das Feuerzeug zischte, es ploppte, und schon sprangen sie nach allen Seiten heraus, die Vampirgebisse.
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