Ein früherer Arbeitgeber hatte auf seinem Schreibtisch eine polierte Metallplatte liegen, in die folgender Leitsatz eingestanzt war: «Handle so, dass im Anschluss deiner Handlung Allen mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen als vorher.» Das ist Postmoderne in Reinkultur. Heutige Streamingdienste erfüllen diesen Leitsatz mustergültig. Aber auch hier führt eine exzellente Problemlösung zu neuen Schwierigkeiten.
Mein Arbeitgeber stammte als Bauernbub aus dem Emmental. Seine Mutter untersagte es sich allabendlich, die Beine auch nur ein bisschen hochzulegen. Keine Frage fühlte sich der Jugendliche von reizvollen Möglichkeiten abgeschnitten. Und dies aus Vorsatz. Zu seinem Schutz, wie es damals üblich war, sich zu rechtfertigen. Der kantische Leitsatz von der Mehrung der Möglichkeiten löste in seinem Leben Probleme auf einen Schlag.
Nun hat sich dieser Leitsatz in vielen Belangen unserer Gesellschaft durchgesetzt. Unter anderem stehen uns Streamingdienste zur Verfügung. Da gibt es Thriller, Actionfilme, Actionthriller, Psychothriller, Actionpsychothriller, Abenteuerfilme, Actionabenteuerfilme, Science Fiction, Fantasy, Science-Fiction-Fantasys, Komödien, Actionkomödien, Horrofilme, Psychohorrorfilme, Horrorkomödien, Actionpsychohorror, Katastrophenfilme, Katastrophenkomödien, Kriegsfilme, aufregende Kriegsfilme, spannende Kriegsfilme. Jede Sparte bietet mehr als nur eine Handvoll von Beispielen. Dazu kommen Serien am Laufmeter. Und dies alles steht zeitgleich auf Mausklick zur Verfügung. Der Lehrsatz von der Mehrung der Möglichkeiten ist auch deshalb ausgezeichnet umgesetzt, da die Abonnementskosten erschwinglich sind.
Nun passiert Folgendes: Man nimmt sich vor, dieses Wochenende lustvolle Stunden mit einem Streamingdienst zu verbringen. Die Fülle, die dort zu erwarten ist, lockt über arbeitsame Tage hinweg. Man möchte in Angeboten schlemmen. Wie es so weit ist, dämmert uns auf einmal die nackte Tatsache, dass man nur einen Film oder eine Serie auf einmal geniessen kann. Die Wahl wird zur Pflicht. Welche Sparte soll es sein? Man werweisst hin und her, klickt einen Trailer nach dem anderen an, aber die Unruhe bleibt, das Richtige zu wählen. Und wertvolle Zeit verstreicht. Wer nach einer Vierteilstunde noch immer sucht, gerät in Panik. Missstimmung macht sich breit. Beherzt, da unter Druck, treffen wir eine Wahl, richten uns beinah störrisch zum Genuss mit Knabberzeugs in Reichweite. Doch das Gefühl, etwas Besseres zu verpassen, trübt die Stimmung beträchtlich ein.
Und es nimmt nicht ab.
Diese Schwierigkeit wurde mir schon mehrfach vonseiten derer bestätigt, die für Nativs gelten. Ihre Eltern stellten sie von Kindsbeinen an immer wieder vor Entscheidungen: Willst du Konfitüre oder Honig? Und wenn Konfitüre, dann Aprikose oder Himbeere? Möchtest du Musik hören oder Geschichten lesen? Sollen wir in den Pilatus Park oder in die Happy-Family Welt? Der Streamingdienst bietet keine Entscheidungshilfe an. Diese Art von Support könnte marktträchtig sein. Irgendwann steht bei der Filmwahl ein rascher Wechsel an. Wer dann immer noch keine Perle erwischt, verfällt einem Missmut, der rasch zur Verzweiflung gerät. Ein Abgrund öffnet sich, es dampft Sinnlosigkeit herauf.
Wahlfreiheit stellt hohe Ansprüche. Das dürfte meinem Arbeitgeber leichtfallen, er ist besonders bewegt, dass er sich endlich in Vielfalt suhlen darf.
Wer aber darin aufwächst, sieht die Sache ziemlich anders. Er wird den Leitsatz abändern müssen. Etwa wie folgt:
Handle so, dass niemand von Möglichkeiten überfordert wird.
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