Juristen beschäftigen sich zweckmässig mit Wahrheit. Oder Erzieher. Beide nämlich, wenn sie Streit schlichten. Wahrheit hat eine sinnvolle Aufgabe in überschaubaren Situationen, wie der Alltag sie bietet. Wird aber Wahrheit in Zusammenhängen behauptet, die hochgradig verzwickt sind und weit über unsere Köpfe hinausreichen, wie etwa punkto Corona oder Klimawandel, dann bedeutet sie schlicht eine Anmassung. Etwa so anmassend, wie eben diese Wahrheit, die ich hier behaupte.

Wahrheit liegt dann vor, wenn ein Sachverhalt belegt ist. Und belegt ist er erst, wenn alle möglichen Gutachter, wer auch immer das sei, die gleiche Situation befragen und daraus die gleichen Schlüsse ziehen.

Demnach hat Wahrheit soziale Bewandtnis. Es sind mindestens drei Parteien daran beteiligt: Gutachter und Gegengutachter und als Drittes eben diese Situation, allgemein das Objekt, über das sie sich verständigen. Das kann ein Gegenstand sein, ein Verhalten, oder eben verzwickte Zusammenhänge wie die Ursachen zum Klimawandel oder zu einer Grossseuche. Dieses Dritte muss allen zugänglich sein, die es prüfen möchten. Meistens fühlen wir uns mit anderen in Wahrheit verbunden, wenn wir Erfahrungen mit ihnen teilen. Zum Beispiel wie sich ein bestimmtes Mantra anfühlt. Dabei bleibt das Dritte, nämlich die Wirkung des Mantra ungeprüft. Denn ich kann das innere Erleben des Anderen nicht bestätigen. So fehlt dieses Dritte auch dann, wenn wir die Ursache zur Pandemie debattieren. Diese Situation bleibt uns unzugänglich. Oder sind die Amerikaner wirklich auf dem Mond gelandet?

Wir verhandeln Indizien, keine Beweise.

Die gegenseitige Bestätigung läuft meistens nur über Worte. Das trifft auch auf die meisten Behauptungen zu, die wir rund um Corona erheben. Wer punkto Corona Wahrheiten behauptet und dadurch andere angreift, indem er sich aufs Bitterste nach vorn verteidigt, hat gar keinen unmittelbaren Bezug zu dieser verzwickten Situation. Man puzzelt Informationen zu einem sinnhaften Ganzen zusammen, hält für Belege, was eigentlich nur Indizien sind, erklärt den Zufall für ausser Kraft gesetzt, und schon verkündet man Wahrheiten aus dem Stegreif, aus dem Lehnstuhl, vor der Laptopkamera. Wohlwissend, dass eine beachtliche Mehrheit diese Wahrheiten teilt.

Was sie leider um keinen Deut wahrer macht.

Auch Wissenschaftler erbringen Belege in sehr kleinräumigen Bereichen. Meistens sind sie hochspezialisiert. Ihre Wahrheiten paaren sich mit Befunden anderer Spezialisten zu einem gesamtgesellschaftlichen Wissen, mit dem wir zu tun bekommen. Aber die Spezialisten untereinander sind Gläubige wie wir. Sie vertrauen darauf, dass alle richtig arbeiten.

Eine Art Naivität in Zeiten der Liberalisierung.

Überhaupt betrifft die Wissenschaft das Schicksal, dass man ihre Wahrheiten sehr oft wieder zurücknimmt. Meistens ersetzt man sie durch neue. Also entpuppen sie sich als Irrtümer und ihre Verkünder von damals als Idioten, die wir grosszügig belächeln. Wie zum Beispiel eine damals mehrfach geprüfte Wahrheit, dass man psychische Krankheiten mit künstlichem Fieber behandeln soll.

So wird es auch Wahrheiten ergehen, die man heutzutage als neuste Forschung anpreist.

Auch die Politik ist von diesem Schicksal betroffen. Politiker weissagen die schlimmsten Katastrophen, wenn so und nicht anders entschieden wird. 1992 malten sie den blanken Untergang an die Wand, sollte die Schweiz den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum ablehnen. Das Nein kam zustande, nichts davon würde sich bewahrheiten.

Die vollmundigen Propheten, die es zuhauf gibt, übersehen die Irrtümer ihrer zahllosen Vorgänger, die bis in die Jahrtausende zurückreichen. Man müsste ihnen mehr Bescheidenheit anraten, wenn sie auf Wahrheiten schwören. Was sie antreibt, sind bloss Überzeugungen, mehr nicht. Eine allgemeine Nervosität hat sich breit gemacht. Alle ziehen irgendwelche rote Linien. Sie verweigern jeden Umgang und jedes Gespräch, sollte jemand diese Linie missachten. Eigentlich müsste ihnen auffallen, dass Gegner umso angriffslustiger vorgehen, je sturer man bestimmte Wahrheiten verficht. Aber das kann man auch reizvoll finden. Das Leben bekommt Schwung, wenn es hartnäckige Gegner gibt. Dabei verrät diese Sturheit bei Freund wie Feind weiter nichts als eine schwierige Ökonomie, die mit beschränkten Mitteln haushaltet, sodass ein Abwägen der Dinge ohne überstürzten Wahrheitsbeschluss schlicht ausser Frage steht.

Der gehässige Streit um Corona, um Impfung oder Klima zeichnet vielleicht nur die Überlastung ab, die Teilnehmer einer liberalisierten Hochleistungsgesellschaft ausstehen. Statt dass sie gegnerischen Überzeugungen auf den Grund gingen, wehren sie Zumutungen ab, die ihren schwierigen Alltag bedrängen.

Das gilt für Befürworter des Corona-Regimes genauso wie für seine Bestreiter.

Die Menschheit bildet, wie alles Lebendige, eine Art Schaum auf diesem Planeten, der in allseitiger Tiefe kreist. Wahrheit, die mitten drin verkündet wird, kann nur anmassend sein.