Offensichtlich lässt sich eine beliebige Persönlichkeit anhand ihrer Netzdaten erfassen, sogar was ihre unbewussten Eigenarten betrifft. Eine Probandin, für die ein Doppelgänger mittels Datenanalyse gefunden wurde, kam zum Schluss, es sei krass, wie durchsichtig wir sind. Das macht Angst. Wie immer, so auch hier, lassen sich jedoch Zusammenhänge des Lebens anführen, die dieses Problem entschärfen.
So lagern wir ungewollt unser Ich ins Netz aus. Eigentlich schreibt sich damit eine kulturelle Eigenart des menschlichen Lebens fort, die seit je wirksam ist. Vieles lagern wir aus, das uns beschäftigt: Gedanken in Sprache, Sprache in Schrift, die Orientierung in Karten und Kalender, Muskelkraft in Windrad und Flaschenzug, später in Dampfmaschinen, Denkleistung in Rechner, Erkenntnis und Bewertung, vielleicht sogar Moral in Algorithmen. Dabei wurde beinah ausnahmslos jede Auslagerung zunächst beargwöhnt bis verteufelt. Dieser Fortschritt erzählt sich als eine Reihe von Entlastungen. Was aber soll entlastend sein, wenn man das Ich in Daten auslagert? Vielleicht hat man diesen Vorzug bislang noch nicht entdeckt. Dabei erübrigt sich auf einmal die schwierige Frage, wer man denn nun wirklich sei. Ich brauche im Netz nur Spuren zu hinterlassen, indem ich fleissig, jedoch aufrichtig vor mir selbst Seiten, Kommentare, Filme anklicke. Auch gebe ich hie und da einen Kommentar zu meiner Person ab, der zutrifft, in Chats, in Foren. Sollten mich irgendwann Selbstzweifel peinigen, lasse ich kurzerhand meine Daten auswerten und freue mich über eine Klarheit, die früher unmöglich war.
Gegenwärtig zeigt man sich besorgt um die Autorschaft des Ich. Die Daten mögen Firmen gehören, sie zeugen gleichwohl von mir selbst. Und wer beanstandet, das Netz übe zuviel Einfluss auf die eigene Persönlichkeit aus, der übersieht, dass es kein unbeflecktes Selbstbild gibt. Denn wir stehen mit jeder erdenklichen Umwelt beständig in Wechselwirkung. Warum nicht mit dem Netz? Diese Entäusserung des Ich gehört zu einer Entwicklung, die weltweit Kopfzerbrechen bereitet. Es heisst, die Internetriesen vereinnahmten unsere Phantasie. Ein Vorwurf, den man schon an die Kirche hätte adressieren können oder an sonstige Filter, die für ganze Grossgruppen von Menschen gedacht sind. Diese Entwicklung bedeutet eine globale Gleichschaltung.
Nun fällt auf: Beide Klagen gehen nicht zusammen. Wenn das Ich aus seinen Datensätzen ablesbar ist, dann unterliegt es keiner Gleichschaltung. Es sei denn in eben dieser Tatsache, dass es sich ins Netz entäussert. Und das scheint für eine Klage gegen diese Gleichschaltung auszureichen.
Gleichschaltung hat ein negatives Vorzeichen. Unter Menschen geben Diktaturen oder Bürokratien klare Beispiele für Gleichschaltung ab. Nach David Graeber bedeutet Bürokratie eine sublime Form von Gewalt. Hoher Druck auf ein erpressbares Leben setzt Gleichschaltung durch. Wer das beklagt, und das tun wir Abkömmlinge westlicher Art, der muss beachten, dass eben dieses Leben, sobald der Druck wegfällt, sich von selbst gleichschaltet.
Sozusagen in Freundschaft.
Vielleicht zeigt sich darin eine Intelligenz des Lebens, das wie ein Schleimpilz immer wieder in kleinere Einheiten zerfällt, die sich früher oder später erneut zu einem grösseren Ganzen verbinden.
Als knüpfte das Leben immer wieder Kontakt unter seinen Formen und Einheiten, die sich jede für sich beständig fortentwickelt.
Solche Gleichschaltungen gelingen, soweit es Menschen betrifft, nicht ohne Spaltung und Streit. Leider aus Feindschaft. Sehr oft kommt es zu Krieg, zu Aufständen, die man niederschlägt. Das liegt daran, dass die eine Ordnung, die für alle gelten soll, unmöglich alle Gewohnheiten der früher selbständigen Einheiten berücksichtigen kann. Sollte diese Gleichschaltung als Intelligenz des Lebens zutreffen, dann drängt sich eine Schlussfolgerung auf, die genauso ernüchtert wie sie heilsame Einsicht ermöglicht:
Denn bei dieser Kontaktnahme scheint es für das Leben keine Rolle zu spielen, ob sie sich aus Freundschaft oder aus Feindschaft ereignet.
Vielleicht ist die Verbindung für das Leben sogar zuverlässiger, die auf Unterwerfung setzt. Oder auf Revolte, sofern die Zeit dafür da ist, sofern der Siedepunkt dafür erreicht ist. Gleichschaltung oder Brüche und Zerfall, Evolution wie Revolution, beides sind Gangarten des Lebens, die sich abwechseln.
Wie in einem Atem. Wie bei einem Pulsschlag.
Über Jahrtausende hinweg.
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