Dass der Geist unabhängig vom Körper besteht, am besten über den Tod hinaus, halten viele für reines Wunschdenken. Andere setzen ihre ganze Hoffnung darauf. Ein unabhängiger Geist, den es schon immer gab und immer geben wird, finde auch ich eher unbehaglich. Wir sollten auch mit Anstand und Würde verlöschen können. Es gab mich ja Millionen von Jahren nicht, und das war auch nie ein Problem gewesen. Dennoch gibt es Argumente, die für diese Unabhängigkeit sprechen.
Statt von Geist könnten wir genauso gut von Kognition oder von Bewusstsein reden, da gibt es zwar feine Unterschiede, aber die lasse ich ausser Acht. Erinnerungen geben ein idealtypisches Beispiel von Geist ab: Zum Beispiel als ich im Alter von vielleicht vier Jahren am Fenster einer Gaststätte zum ersten Mal Kaktusse entdeckte. In der Annahme, die Stacheln seien Haare, griff ich mit beiden Händchen voll hinein. Das Geschrei muss ohrenbetäubend gewesen sein. Meine Mutter führte mich an den kleinen Teich im Garten und zog mir die Stacheln einzeln aus den Fingern, während sie immer wieder Wasser darüber tröpfeln liess, damit es mir heilsam vorkam. «Heile heile Segen», sangen wir damals. Diese Erinnerung rufe ich heute noch ab, im gleichen Ablauf der Geschehnisse, in den gleichen Farben und Tönen. Es kann sein, dass ich die Sache mit dem Teich dazu dichte. Oder ich beziehe sie von einer anderen Situation, die mir entfallen ist. Die Traumarbeit, wie Freud sie erörtert, gilt angeblich auch für die Erinnerungsarbeit, wie etwa Verdichtung und Verschiebung.

Für mich ist hier lediglich entscheidend, dass die Erinnerung über Jahrzehnte unverändert geblieben ist.

Nun erfahren wir von der Wissenschaft, dass sich der Körper regelmässig erneuert. Die Darmschleimhaut innert Wochen, sodass dort gerne Kopierfehler passieren. Das ergibt Polypen, die bösartig werden, sobald sie nach innen wuchern. Alle Körperzellen sterben ab und werden erneuert. Es heisst, in einer Abfolge von gut sieben Jahren. Wäre die Erinnerung als Geist abhängig vom Körper, müsste sie sich wegen allfälliger Kopierfehler verändern. Das geschieht aber nicht. Das könnte natürlich unmerklich geschehen, ohne dass wir in der Lage wären, die Erinnerung vor der Zellerneuerung und danach so zu vergleichen, dass es einer Überprüfung standhielte. Wir würden dann über die Konstanz unserer Erinnerung einfach getäuscht. Gegen diesen Einwand wiederum lassen sich Erinnerungen anführen, die wir mit anderen Menschen teilen. In zeitlichen Abständen tauschen wir uns darüber aus. Auch diese Erinnerungen bestehen unverändert fort. Einerlei, ob sie stimmen oder nicht.

Wenn ich nun die Erinnerung mit den Kaktussen heute erzähle, hat sich mein Körper zwischenzeitlich sieben Mal erneuert. Sieben Mal sind die Zellen als angebliche Träger des Geistes abgestorben. Millionenfache Tode haben sich schon in mir abgespielt. Mir scheint, diese Tatsache widerlegt stichhaltig die Abhängigkeit des Geistes vom Körper. Dieses Argument gipfelt darin, dass Menschen mit Nahtoderfahrung übereinstimmend von einem Film berichten, der vor innerem Auge abläuft und das gesamte Leben in gestochener Klarheit nacherzählt. Sie erkennen die zahllosen Situationen wieder, ihre Kindheit, die Jugend, die Jahre der Orientierung, das Alter. Und sie allein geben die Instanz ab, die diese Erinnerungen für richtig befinden kann. In all diesen Reizen erkennen sie unzweifelhaft ihr persönliches Leben wieder. Diese Erinnerungen haben die mehrfache Erneuerung des Körpers unbeschadet überlebt.

Materialisten geben zu bedenken, diese Konstanz liege wohl nicht an den Zellen selbst, sondern an körperlichen Strukturkräften. Da könnten sie genauso gut von Geist reden. Aber wie sie diesen Begriff vorbringen, lässt sich ihr Unbehagen kaum wegdebattieren. Denn er mutet kaum weniger metaphysisch an als die Annahme eines selbständigen Geistes, indem wir damit Sachverhalte behaupten, die sich unserer Überprüfung entziehen.

Ein Physiker stellt wohltuend klar, dass nur schon dem Ausdruck Kraft diese Unschärfe anhaftet. Was damit gemeint sei, könne er nicht wissen, er verhandle bloss die Wirkungen von Kräften so exakt als möglich.

Für mich persönlich liegt die Sachlage anders. Wenn überhaupt, so kann ich mir nur vorstellen, dass Körper und Geist sich gegenseitig beeinflussen. Geist mag Energie bedeuten,  die ungehindert strömt. Für sie gilt, wie bekannt, der Erhaltungssatz. Das Materielle würde hingegen den Zustand bedeuten, da Energie abgebremst wird und verklumpt.

Demnach handelt es sich bloss um verschiedene Zustände des Gleichen.

Aber vielleicht habe ich einfach zu viel moderne Physik abbekommen.

Oder ich bin zu sehr davon angetan, alles in einer Einheit zu denken. Jedoch die Dinge getrennt zu sehen, fällt mir schwer.

Hier sitze ich, ich kann nicht anders.