Ai Weiwei hat Chinas Staatsapparat am eigenen Leib zu spüren bekommen. Der Künstler sollte vom Westen begeistert sein. Das ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil kritisiert er uns scharf.

Der Westen mag als Hort für Menschenrechte gelten. Was sein Handel mit China anbetrifft, so unterliegen diese Werte der blossen Rendite. Westliche Firmen, auch westliche Staaten nehmen offenkundige Menschenrechtsbrüche in Kauf. Damit hat der Westen seine Autorität eingebüsst, die er sich punkto Demokratie, Menschenrechte und Fortschritt im Übrigen eigenmächtig zugeschrieben hat.

China ist ja bekanntlich ein verlässlicher Einkäufer. Politische Kritik wird bei uns von Kundenfreundlichkeit abgelöst. Anfangs dieses Jahrhunderts warf Brasilien billigen Stahl auf den Markt, den die Vereinigten Staaten sogleich mit Zöllen belegten. Damit verstiessen sie gegen die Regeln des Welthandels. Wenn es eben um die heimische Wirtschaft geht, verstummen selbst in den USA die Grundsätze des freien Marktes. Die Europäische Union schluckte brav diesen Billigstahl, während die Schweiz gleich verfuhr wie die USA. Brasilien lieferte nach, ein Handelskrieg drohte, hätte China den gesamten Billigstahl nicht fortlaufend vom Weltmarkt weggekauft. Auch übernimmt China Schulden westlicher Staaten. So wächst es zu einem gigantischen Gläubiger aus, von dem man vielleicht insgeheim hofft, dass er seine Schuldner pflegen wird, falls diese in Schieflage geraten. Schliesslich sollen sie ja zahlungskräftig bleiben. Ein sonderbarer Grund, Schulden zu machen, aber so verfuhren die USA mit der Entente im Ersten Weltkrieg. Im Falle Chinas wäre das eine Versicherung mit Risiken. Ein widersinniges Konzept somit, worüber man sich aber kaum mehr verwundert.

Der Westen kommt mir vor wie ausgelaugter Boden. Wie alles Lebendige, so haben auch Kulturen nur dann Bestand, wenn sie sich von innen her erneuern. Beruf und allgemein Öffentlichkeit sind durchreguliert, auch in der Privatwirtschaft. Also mühen wir uns tagsüber in erster Linie dafür ab, dass uns keine Formfehler unterlaufen. Diese Anstrengung zerrüttet leider auch den sozialen Umgang. Denn wer Formfehler vermeidet, denkt nicht nur an sich, er wirkt auch überheblich. Man bekämpft ihn umso mehr, als die Person blasiert erscheint, obwohl sie auch nur, wie alle, in einer Umwelt überlebt, wo man von allen Seiten mit folgenreicher Kritik zu rechnen hat. Wir sehen nicht, wie sehr sie sich verausgabt. Ihr Erfolg bei der Formfehlervermeidung lässt auf eine Reserve schliessen, die wir ungerecht verteilt finden. Also achten wir bei dieser Person noch schärfer auf Unregelmässigkeiten, und das wird sie zum Nachrüsten antreiben.

Bis zur Erschöpfung.

Eine Art Verkrampfung durchzieht die Gesellschaft. Das so genannte Gemeinwohl leidet darunter beträchtlich.

Bei der Vermeidung von Formfehlern geht es nur bedingt um die Sache selbst, die zu bearbeiten ist. In erster Linie ist man also um Absicherung besorgt. Dazu gehört die Garantie zum abendlichen Rückzug in ein Nirwana aus Serienstaffeln, sozialen Netzwerken, Spielkonsolen und Pornografie. Ein Sporttrainer meinte einmal nachdenklich zu mir, die Nachwuchstalente hätten keinen Biss mehr, seitdem sie sich auf sozialen Netzwerken herumtrieben. Und das würden Kollegen von ihm bestätigen. Man bedenke, Sportler geben das Richtmass für die Fitness eines menschlichen Gemeinwesens, in diesem Fall die Nation. Ein Lehrmeister wiederum beschrieb seine neuen Lehrlinge: Sie machten selbst dann, wenn es darauf ankäme, auf ihn den Eindruck, es gäbe für sie immer etwas, das noch wichtiger sei als dieses Tagesgeschäft. Nämlich alles, was mit Bildschirm zu tun hat. Bildschirme ziehen uns an wie das Licht die Motten. Und ausserdem: Der Westen besteht mittlerweile aus Leuten, die sich andauernd selbst fotografieren.

Wie soll sich das erneuern? Nun bin ich nicht der Typ, der mit selbstgefälligem Unmut ganze Weltuntergänge voraussagt. Sicher aber scheint mir dies:

Was sich von innen nicht erneuert, dem geschieht eben dies von aussen.

Früher oder später. So will es das Leben.