Nun sitze ich im Garten hinter der Apotheke mit anderen Impfwilligen wie in einer Selbsthilfegruppe im Kreis und warte auf meinen Termin. Das Dilemma ist vollkommen: Wie immer du dich entscheidest, für oder gegen die Impfung, es kann mühsam bis tödlich enden. Falls du die Ausnahmen ernst nimmst, die sich herumsprechen: Auf der einen Seite Gürtelrose, feinste Trombosen in der Halsschlagader, auf der anderen Long-Covid, vielleicht mit Delta-Vorzeichen, oder schleichender Erstickungstod.
Welchen Weg wir wählen, hängt davon ab, was wir wissen. Das wäre der Königsweg aller Aufklärung. Punkto Corona und der Impfung wissen wir Vieles.
Vieles, das sich widerspricht.
Also nichts.
Das Hin und Her von Argumenten, das kein Ende nimmt, das wiederholte Sortieren von Gehörtem kann erschöpfen. Aus Ohnmacht wird Wut. Irgendwann schneiden wir kurzerhand ab, was unsere scheinbare Gewissheit in Frage stellt. Diese Verdrängung ist schwierig aufrechtzuerhalten, zumal unser Leben im Sekundentakt betreffs Corona, sprich Impfung mit neusten Befunden, neusten Theorien, und neusten Geschichten geflutet wird, die auf privaten Kanälen in Umlauf sind und reihenweise Leute die Impfung schwänzen lassen, wie es heisst.
Wie entscheide ich? Aus Freiheit? Das klingt hier wie ein Witz. Wähle das geringere Übel. Wie soll ich das beurteilen? Meine Vermutung: Wir wählen, wie es unser bisheriger Lebensweg vorgibt. Wie sollten wir anders? In meinem Fall überwiegt die Sorge der Familie, ich könnte mit meinen Pfunden und meinem überhöhten Blutdruck als Risikopatient enden. Andere, die zeitlebens schon immer unter der Regeltreue ihrer Mitmenschen litten, widersetzen sich der Impfung. Sie tragen Wunden aus, die die Hochleistungsgesellschaft ihnen schlug. Und Impfung zählt zu deren besten Errungenschaften, sagt man. Für die einen sind sie Impfunwillige, für die anderen besorgte mündige Bürger, die eigentlich vernünftig denken. Ihre Vernunft heisst: Ausnahmen könnten mich betreffen. Und sie bedeutet zugleich das Eingeständnis, dass niemand weiss, wie es um die Schwachstellen seines Körpers bestellt ist.
Auch sie, die der Impfung fernbleiben, haben also ihre Gründe.
Genau wie ich.
Zwanzig Minuten nach neun, das ist mein Termin. Eigentlich müsste ich in Panik ausbrechen angesichts der düsteren Möglichkeiten, die der blanken Rechnung nach in mein Leben treten könnten. Mir wird klar: Damit ich bei Verstand bleibe, muss ich sterben lernen.
Und zwar jetzt!
Wie macht man das? Wie immer, wenn sich die Dinge auf einen gefährlichen, sicher aber bedeutsamen Punkt hin verengen, wie nun beim Piks in den Arm, der für mich schon vorbereitet sein dürfte, und sei es nur, dass die Klebstreifen bereits abgezogen sind, dann ordnen sich die Gedanken wie von einem Magneten bewegt, sodass ins Bewusstsein tritt, was für diese Frage einschlägig ist, als rückte es in die vorderste Reihe vor. Oder in einen Trichter, wie die nächste Kugel für das gewinnbringende Los. Vielleicht ist es das, was man Intuition nennt. Die Gedanken fingen also zu sprudeln an: Sollen wir sterben lernen, so steht uns die Auffassung von Freiheit im Weg, die uns Moderne umtreibt. Diese Auffassung benötigen wir, damit wir Verantwortung übernehmen. Das tun wir auch für andere. Der Tod jedoch ereilt uns allein.
Auf intimste Art.
Wenn ich mein Tun und Lassen strikt als Ergebnis meiner persönlichen Souveränität erachte, droht mir der Tod, der sich meiner Einflussnahme entzieht, als Katastrophe schlechthin. Wenn ich alle Verzweigungen, die mein Leben ausmachen, als Triumph oder Niederlage begreife, die ausschliesslich auf persönlichem Vermögen oder Versagen beruhen, kann ich unmöglich sterben lernen. Schuld und Reue stehen dem massivst im Weg. Sie verhindern es regelrecht. Zum Sterbenlernen muss ich also die Momente in den Blick nehmen, die mein Leben bestimmen, ohne dass ich Einfluss darauf hätte. Das beginnt mit der Geburt. Weiter hängt der freie Wille, so klärt die Neurobiologie, davon ab, wie ich in ersten Jahren von anderen Menschen behandelt wurde. Auch die Art, wie man mich als Kind ernährt hat, liegt ausser meiner Kontrolle, genauso wie die Ängste, die in einer Familie wirken. Sie prägen mit, wie ich entscheiden werde. Gewisse Vorgesetzte haben mir misstraut, aus Gründen, die viel mit ihnen, wenig mit mir zu tun hatten oder umgekehrt. Sie stellten die Weichen, schoben mich an die Tür, schickten mich fort. Ich orientierte mich neu. Was kann ich dafür, dass einträgliche Angebote meinen Weg kreuzen? Es entzieht sich meiner Kontrolle, welche Berater in meinem Leben auftauchen. Oder ich wähle mir welche aus Gründen, die mir gar nicht geläufig sind. Sie machen mir Sachverhalte einsichtig, sodass ich die Dinge beim Schopf packe, als wäre ich schon immer souverän gewesen. Oder sie machen sie mir derart abspenstig, dass ich mit dem gleichen Elan das Gegenteil von dem unternehme, was sie mir anempfehlen. Bei der einen Arbeitsstelle auf Gymnasialstufe bin ich ausgeschieden, unter anderem da man dort Frauen bevorzuge, wie ich hinter den Kulissen erfuhr. Nun arbeite ich als Grundschullehrer, wo es zu wenig Männer hat.
Von Beispielen persönlicher Unfreiheit wären hier noch tausende anzuführen. Muss ich also meine Unfreiheit einsehen, damit ich sterben lerne? Für mich klingt auch das unsinnig. Freiheit und Verantwortung sind politische Grundsätze. Sie spielen im zwischenmenschlichen Bereich. Die persönliche Intimität, unsere Ahnungen, Absichten, Wünsche und Hoffnungen, die Art, wie wir Pläne schmieden und umbauen oder verwerfen, spielt sich jenseits von Freiheit und Unfreiheit ab. Oder es ist immer ein Gemisch aus beidem.
Wir halten unsere Willensimpulse deshalb für frei, weil wir eins sind mit ihnen. Dabei bilden sie nur einen Ausschnitt in der gesamten Verkettung des Lebens in Ursache und Wirkung, in Grund und Folge. Willensimpulse sind vom Leben immer veranlasst. Stelle dir vor, du sitzt auf einem Sofa mitten in den Ferien und sagst zu dir: Ich will. Jetzt. Was immer es ist, es wird veranlasst. Und wenn ich das versuche, etwas ohne Grund zu wollen, wird es trotzdem veranlasst. Eben als Versuch, diese Ansicht zu widerlegen, alle Willensimpulse seien derart ins Leben eingebunden.
Neurobiologisch trifft das zu: Bewusste Entscheide keimen erst unbewusst.
Damit habe ich kein Problem. Ich bin mein Stammhirn genauso wie meine königliche Hirnrinde. Zwischen mir und diesen besonderen Fettgeweben besteht kein Unterschied.
Sterben lernen bedeutet also, dass ich bewusst mit dem Leben gehe. Ich fliesse mit ihm, mache die Verzweigungen mit, in die ich gerate, vielleicht lerne ich darüber zu staunen, mühe mich dann ab, wenn mich das Leben dazu veranlasst, gerate in Wirbel, überhole andere, bleibe in seichten Lagen hängen, werde fortgespült. Mit dem Leben fliessen heisst, seine Freiheit und Unfreiheit richtig einschätzen.
Da überkommt mich eine Gewissheit. Einfach so: Alles Üble am Menschenleben, aller Hader, alle Verzweiflung, alle Schuld und Reue rührt daher, dass wir uns gegen dieses Fliessen stellen. Menschen ertrinken oft in seichten Flüssen aus Panik, da sie unbedingt an Ort bleiben wollen, statt sich wie ein Brett mit Atemkissen der Strömung zu überlassen. Also lasse ich mich davontragen. Denn das Meiste, was mein Leben mitausmacht, hatte ich nie unter Kontrolle. Ich durchlief Verzweigungen völlig unbewusst der Tatsache, dass wir immer, bei allem, was wir tun oder unterlassen, und ebenso im Sterben, eine Wette eingehen, bei der die Chancen immer hälftig verteilt sind:
Es gelingt oder nicht. So strömen wir seit Geburt.
Immerhin weiss ich, dass alle Energie, die mich ausmacht wie alles Lebendige, erhalten bleibt, wo immer ich hingerate. So lautet der Energieerhaltungssatz. Dieser wurde immerhin von Physikern aufgestellt und von keinen Propheten verkündet, die heutzutage meistens selbsternannte sind.
Wer so mit dem Leben fliesst, fliesst mit in den Tod. Denn der Tod ist kein Widersacher des Lebens, sondern eine seiner Einrichtungen.
Wie die Geburt.
Es gab Leben, bevor es den Tod gab. Nötigenfalls kehre ich in diesen Zustand zurück.
Nun ist es zwanzig nach neun. Ich erhebe mich, klopfe an die Tür.
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