Seit Jahren lese ich Dürrenmatt. Jetzt erst hat sich mir erschlossen, wie radikal er ist. Sein Werk spendet sofortige Entlastung von planetarischer Schwere.
Zufällig klickte ich auf ein Interview, das Hugo Loetscher mit Dürrenmatt führte. Seine Antwort auf eine Frage, die mir entfallen ist, gab mir den Schlüssel zur ganzen kolossalen Präsenz alles Dürrenmattschen, das wir kennen: Die bissige Ironie, die gigantischen Themen, die schablonenhaften Figuren, eigentliche Archetypen. Frauen sind Huren, Idealisten geraten unter die Räder, keine Geschichte nimmt ein gutes Ende. Schlimmstmögliche Wendungen, also Katastrophen jeder Art, sind unabwendbar. Schlimmer noch, sie treten umso eher ein, je strikter ihre Vermeidung betrieben wird. Beim Besuch einer Besamungsstelle für Rinder räsoniert Dürrenmatt über die Zukunft, indem er von der Tatsache ausgeht, dass es Samenbanken gibt. Diesen Umstand spinnt er in ironischer Weise fort, soweit es den Menschen betrifft. Dabei kann sich Dürrenmatt immer weniger halten vor Lachen.
Dieses Lachen, an Gemütlichkeit kaum zu überbieten, gibt ein erstes Anzeichen seiner Radikalität.
Angesichts von Katastrophen mit weltweiter Wirkung könne man nur in Lachen ausbrechen, so seine Empfehlung. In Lateinamerika gab es oder gibt es eine Befreiungstheologie, die Menschen in Ausbeutung beisteht, indem sie sie mithilfe der Bibel von den Regelwerken der Institutionen entlastet, die sie bedrücken. So hat es Paulus vorgemacht, so sind ihm Luther und besonders Calvin gefolgt. Theologie spielt beim Atheisten Dürrenmatt eine entscheidende Rolle, zumal er in einem Pfarrhaus gross geworden ist. Sein akademisches Brot aber reichten ihm Philosophie und Naturwissenschaft. Als ich zwanzigjährig war, liebäugelte ich mit klösterlicher Kultur, ich durchlief Exerzitien, immerhin durfte ich mich frei dafür entscheiden. Damals jedoch kam mir Dürrenmatts Atheismus problematisch vor. Sein Aufsatz zum Gehirn lehnte ich ab. Das sehe ich nun anders:
Dürrenmatt ist ein Befreiungsphilosoph.
So gesehen erachte ich ihn als einen säkularen Paulus. Oder Calvin. Oder Helder Camara. Das würde in seinen Ohren übertrieben klingen, ich käme ihm gewiss schwärmerisch vor. Aber wenn er die allgemeine Sinnlosigkeit betont, wie er es in diesem Interview auf den Punkt bringt, die Sinnfreiheit allen Geschehens, so befreit er uns von dem Druck, den das Sinnhafte, unerhört Bedeutsame und von unendlicher Wichtigkeit Verklärte auf uns ausübt.
Wobei er allem Missionieren abhold ist. Er wird eben ausgefragt, also gibt er Antwort trotz seiner bleiernen Müdigkeit, die er seiner Zuckerkrankheit wegen aushält.
Und wenn wir Begeisterte seine Worte als befreiend aufsaugen, ist das eben unser Bier.
Seines aber schon lange nicht mehr.
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