Vergessen hat eine produktive Aufgabe. Nicht nur, was das Gehirn anbetrifft.

In der Ecke einer Gaststätte, am Rande einer pulsierenden Öffentlichkeit, tunkt ein älterer Herr sein Hörnchen in den Kaffee und beisst die durchfeuchtete Spitze ab. Was bei mir Ekel auslöst, dass man eine luftige Teigmasse zu einem Matsch durchtränkt, gefiel meinen Grosseltern ebenso wie Moongirls älterer Verwandtschaft. Eine ganze Generation teilt eine gewisse Vorliebe. Vorliebe? Wohl eher Gewohnheit. Wir schütteln den Kopf, denn wir vergessen, dass jede Gewohnheit, auch unsere eigene, ihre Gründe hat.

Die Hörnchenspitze im Kaffee erzählt von einer Zeit, da man hartes Brot zu essen bekam.

Im Krieg galt die Anweisung an Bäcker, frische Brotleiber einen Tag lang zurückzuhalten, bevor sie sie gegen Essensmarken herausgaben. Ofenwarmes Brot hätte man bedenkenlos weggefuttert. Als junger Praktikant in einer Dorfschule entsorgte ich harte Brotreste im Kachelofen. Der Lehrer, mein Ausbildner wies mich geduldig auf diesen Fehltritt hin, mit der Begründung, die Raumpflegerin, die hier für Ordnung sorge, sei eine Polin, die im Krieg Hunger litt. Trotz der Asche steckte er sich eines der Stücke in den Mund und kaute es durch. Ich tat es ihm gleich. Und ich machte eine Entdeckung:

Hartes Brot wird schmackhaft und sogar süss, wenn man es reichlich zerkaut.

Das kulturelle Vergessen hatte mir diese Einsicht vorenthalten. Das veranlasst viele zu einem Rundumschlag an Empörung, was die Vergesslichkeit unserer Gegenwart betrifft. Die Geduld, die mein Ausbildner mir gegenüber bewies, zeugte von der Einsicht, dass auch kulturelles Vergessen eine wichtige Aufgabe hat. Es ist sogar notwendig, soweit es den Alltag betrifft. Wo kämen wir hin, gäben wir auf alle früheren Dringlichkeiten Acht? Erst reifen sie zu Gewohnheiten aus, bauen sich in Identitäten ein. Dann aber dünnen sie aus. Die Hochleistungsversorgungsgesellschaft hat uns in die Lage versetzt, dass wir täglich an ofenwarmes Brot kommen, wenn uns danach ist. Auch das hat klare Gründe.

Und wie immer schafft eine Lösung, die alle beglückt, wie eben die tadellose Versorgung im Tagesschritt, neue Probleme, die andere zu schultern bekommen.

Dennoch besteht ein gewisser Selbstanspruch, zumindest in meinem Fall, dass ich mich bei merkwürdigen Gewohnheiten nicht damit begnüge, bloss den Kopf zu schütteln. Gründe für Gewohnheiten zu sehen, ergibt eine Haltung, die für alle wünschenswert wäre, sie lässt sich aber nicht einfach so verordnen.

Was allgemein verordnet wird, kann unmöglich zu einer Haltung führen.

Gewohnheiten gehen vergessen, ihre Gründe ohnehin. Für den steten Fluss der Zeitverhältnisse gibt es Archive und Datenbanken, in denen sich Fachleute tummeln. Die dauerhafte kosmische Bewegung des Lebens sorgt dafür, dass jede Zeit ihre eigenen Herausforderungen zu bewältigen bekommt. Das bedingt unsere volle Aufmerksamkeit. Auf Gewohnheiten, die aus der Zeit fallen, ist keine Rücksicht möglich.

Andere Zeiten, andere Sorgen, sagt Voltaire.