Die Serie «Freud» erntet mittelmässige Kritiken. Für mich ist sie ein Leckerbissen.
Zum Beispiel versetzt es mich in beste Laune, wenn das literarische oder filmische Werk mehrere Deutungsebenen anspricht und sie erfindungsreich vernetzt. Die Serie müsste eigentlich «Wien vor 1900» oder besser «KuK» für Kaiser und König heissen, womit seit je die Doppelmonarchie Österreich – Ungarn in der klaren Rangfolge benannt wird, dass der ungarische König der habsburgischen Kaiserkrone nachfolgt. Unter solchen Titeln würde die Serie im Menu von Netflix wohl kaum auffallen. Der Bescheid, dass Vieles in der Serie historisch zutreffe, Manches aber frei erfunden sei, liess mich erst zögern. Das Vergnügen aber blieb intakt.
Deutungsebenen sind in dieser Serie leicht auszumachen. In der damaligen hierarchischen Gesellschaft blieben bestimmte Lebensbereiche strikt voneinander getrennt. Jeder von ihnen hat eine eigene Deutungshoheit. Der Reiz aber, der durchaus mit Freud zu tun hat, besteht darin, dass diese Bereiche in der Serie unerkannt miteinander verbunden sind und sich zunehmend heilsam oder unheilvoll durchwachsen. Ich sehe verschiedene Bedeutungsebenen: Der Vielvölkerstaat der Doppelmonarchie bietet den weiten Rahmen der Geschehnisse, die ungarische Unzufriedenheit mit der absoluten Herrschaft Österreichs steckt den engeren Spielraum ab. Dazu kommen das erpresserische Ehrverständnis innerhalb der habsburgischen Armee sowie die harte Naturwissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die für jedes psychische Fehlverhalten organische Ursachen ausfindig macht. Auch ihre Mittel sind entsprechend grobschlächtig, etwa eiskalte Duschen oder künstlich erzeugtes Fieber. Dagegen hat sich ein Freud zu behaupten, der Ursachen in Sachverhalten findet, die unbewusst, also nicht bewusst sind. Dazu kommen Andeutungen, wie das Zigeunerwesen im Benehmen des ungarischen Grafen, ein Anschlag à la Jack the Ripper, parapsychologische Séancen im habsburgischen Adel und nicht zuletzt ein ungarischer Schutzgott namens Taltosch. Was Wien angeht, darf die Kanalisation nicht fehlen sowie die süssliche Stimmung der festlich aufgebahrten, allmählich verwesenden Leiche des Generalsohnes, der in einem Duell gefallen ist.
Viel Tiefe ist allerdings nicht zu erwarten, das würde das Buffet der Serie ohnehin überladen. Freud erschliesst sich die Schattenwelt umstandslos. Auf Anhieb entlässt sie die Wahrheit in handlichen Geschichten. Auch bei sich selbst: In einer einzigen, unerklärlichen Umnachtung erschliesst sich ihm der gesamte Ödipuskomplex, indem er seinen Vater erwürgt und seine Mutter kurz beschläft. Da darf man getrost schmunzeln, wenn man bedenkt, wieviel Arbeit, wieviel Irrtum, wieviel an umständlichen Ausschlussverfahren für den wirklichen Freud nötig war, um schliesslich diesen Trieb behaupten zu können.
Bei dieser Serie muss man sich eben auf Unterhaltung einstellen. Dagegen spricht gar nichts. Voltaire meinte einmal, bei der Produktion von Geschichten sei alles erlaubt, ausser Langeweile.
Freud ist als Figur deshalb zentral, da diese Bereiche bei ihm zusammenfinden, angefangen bei der Hypnose, die als volkstümliche Waffe der Ungarn gegen Habsburg in den Séancen angewandt wird, nun aber dank Freud und seinen Lehrern in der Wissenschaft, wenn auch hoch umstritten Einzug hält. Wie ein Holmes oder Watson begleitet er die Ermittler, die von den Untaten, die sie aufzuräumen haben, überfordert sind. Er behandelt die Täter, ist bei allen Geschehnissen zugegen, wenn auch in der zweiten oder dritten Reihe. Jedenfalls kommt er immer noch rechtzeitig dahergerannt.
Die Ungarn nutzen die dekadente Freude des habsburgischen Adels am gruftigen Jenseits, indem sie Séancen anbieten, wo sie einzelne Teilnehmer mittels Hypnose zu diesen Untaten verleiten. Das Jack-the-Ripper Massacker geht daraus hervor, ebenso der Selbstmord eines adeligen Berufskollegen von Freud, der in die Füsse seiner Schwester verliebt war und sie ihr hypnotisiert abschnitt, also die Zehen, da er mit der Tatsache nicht zurechtkam, dass sie bald erwachsen würde. Zur Manipulation dient dem ungarischen Grafenpaar eine junge Frau als Medium, in der als Kind beim Gemetzel in seinem Dorf, das österreichische Truppen anlässlich der Revolutionskriege gegen Ungarn anrichteten, der Schutzgott Taltosch erwachte. Ziel ist es, mit ihrer Hilfe den psychotischen Thronfolger Habsburgs zu bezirzen, damit er die Ungarn zum Ball der Völker in Schönbrunn einlädt, der dann als Gelegenheit zu einem Attentat auf den Kaiser genutzt werden soll. Um den Thronfolger zu gewinnen, würden sie sogar die Jungfräulichkeit ihres Mediums opfern.
Der Höhepunkt der Vereinheitlichung dieser Vielfalt an Deutungsebenen sprich Lebensbereichen und damit der Kern meines Entzückens scheinen mir dort gegeben, wo das ungarische Medium und mit ihr der Schutzgott zu Freud in Behandlung kommen. Dass er mit ihr Sex hat und immer wieder Kokain schnupft, ist hingegen nur modisches Beiwerk in der Serie. Interessant ist dieser Höhepunkt auch deshalb, da ich als Zuseher zwischen zwei Lesarten nach Laune pendeln kann. Die eine mag man für realistisch halten, die andere für übersinnlich: Entweder hat eine schitzophrene junge Frau ungeahnte Kräfte entwickelt, was durchaus vorkommen kann. Oder es ist eine Supermacht in ihr heimisch geworden, was an der androgynen Verfärbug ihrer Stimme kenntlich gemacht wird. Eine Marvelwelt könnte es nicht besser vermarkten. Volkstum, Politik und Wissenschaft sind damit auf einen Nenner gebracht. Die Deutung mag unentschieden hin und her pendeln, wie die Taschenuhr bei der Hypnose. Ein Umstand, der für Quantenphysiker alltäglich ist. Die schönste Stelle der Serie, in der diese Einheit vollendet wird, ist der Moment, da Freud dem Medium Fleur Salomé klarmacht:
«Sie müssen verstehen, dass das arme kleine Mädchen aus Ungarn, die junge Frau Fleur Salomé und der Schutzgott Taltos eine einzige Person sind.»
Das wäre der Moment aller Heilung. Auch für die Gesellschaft.
Von damals wie von heute.
Folgerichtig müsste es heissen: Ungarn, Habsburger, Psychoanalytiker, harte Naturwissenschaftler, Volkstümliche mit Schutzgöttern, Mörder mit entmachtetem Ich, Sexbesessene und Koksschnupfer, aber auch, was uns besonders heute betrifft: Flüchtlinge, Liberale, Soziale, Frauen und Männer, Europide, Negride, Mongolide, sie alle sind die eine und einzige Gesellschaft. Oder eben: Menschheit.
Heilung, das heisst immer: Ganz werden.
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